715. Mahnwache der Samstagsmütter unter Polizeiblockade

Zum 715. Mal sind die Istanbuler Samstagsmütter auf die Straße gegangen, um Aufklärung über ihre in Polizeigewahrsam verschwundenen Angehörigen und eine Bestrafung der Täter zu fordern.

Mit starker Polizeipräsenz ist in Istanbul erneut die wöchentliche Demonstration der Samstagsmütter vereitelt worden. Die Mütter und ihre Unterstützer*innen wollten zum 715. Mal auf dem Galatasaray-Platz im Stadtteil Beyoğlu zusammenkommen, um Gerechtigkeit für ihre in den 1980er und 90er Jahren verschleppten Angehörigen zu fordern, die im Polizeigewahrsam verschwundenen sind. Auch die Straße, die zum Gebäude des Istanbuler Menschenrechtsvereins IHD führt, wurde im Vorfeld der Mahnwache abgesperrt. Obwohl die Kundgebung massiv von der Polizei bedrängt wurde, versammelten sich dennoch zahlreiche Menschen vor dem IHD-Gebäude.

Thematisiert wurde auf der heutigen Aktion die Geschichte des 1993 bei seiner Festnahme in Riha-Sêwreg (Urfa-Siverek) „verschwundenen“ Hüseyin Taşkaya. Eine einleitende Erklärung wurde von seiner Nichte Sürgün Taşkaya vorgetragen. Taşkaya sagte: „Da es in der Türkei kein den Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung angemessenes Rechtssystem gibt, wird das Schicksal der in Haft Verschwundenen nicht aufgeklärt und keine Gerechtigkeit hergestellt.“

Taşkaya wies auch auf die Polizeigewalt hin, mit der die Kundgebung am Galatasaray-Platz seit Wochen verhindert wird und fuhr fort: „Diese Behinderungen widersprechen der Verfassung und internationalen Abkommen, die auch die Türkei unterzeichnet hat. Sie stellen einen Angriff auf das Wesen unserer Grundrechte und -freiheiten und die demokratischen Werte dar.“

Die Geschichte

Taşkaya kämpft nun schon seit einem Viertel Jahrhundert um Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie berichtet von der Geschichte ihres Kampfes um Gerechtigkeit für ihren Onkel folgendermaßen:

„Der 42-jährige Hüseyin Taşkaya, Vater von vier Kindern, hatte in Sêwreg, das vollkommen unter der Kontrolle des Bucak-Stammes steht, auf dem Bau gearbeitet. Als sich herumsprach, dass sich sein Name auf einer Todesliste befand, zog er nach Istanbul um. Da er noch die übrigen Arbeiten abschließen wollte, ging er für eine Weile zurück nach Sêwreg und wohnte bei seinem Onkel Mehmet Taşkaya. Am 6. Dezember 1993 fuhren dreißig Fahrzeugen mit Soldaten, Polizisten und Dorfschützern vom Bucak-Stamm nach Bağlar in Sêwreg und stürmten das Haus von Mehmet Taşkaya. Die Razzia wurde von Leutnant Ahmet Şentürk geleitet. Bei der Operation wurde Hüseyin Taşkaya festgenommen. Die Familie fragte bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gouverneur nach dem Verbleib von Hüseyin Taşkaya. Immer wieder bekam sie die gleiche Antwort: ‚Fragt bei Sedat Bucak nach.‘  Der DYP-Abgeordnete, Stammesführer und Chef der Dorfschützer Sedat Bucak sagte wiederum: ‚Unsere Einheit hat ihn festgenommen, aber dem Staat übergeben. Danach haben wir nichts mehr gehört. Der Staat weiß es.‘ Darauf ging seine Mutter, Fadime Taşkaya zur Kreisdirektion der Polizei. Dort sagte man ihr: ‚Kommen Sie nicht nochmal hierher. Gehen Sie mit ihren Söhnen von hier weg, sonst verschwinden sie auch.‘

Alle Versuche der Familie blieben ergebnislos.  Es war nichts über Hüseyin Taşkaya zu erfahren. Fadime Taşkaya verließ uns nach beständigem Warten und Suchen nach ihrem Sohn am 18. Oktober 2015. Wir wissen, wer Hüseyin Taşkaya mitnahm und verschwinden ließ. Gegen die in der Akte auftauchenden Täter ist bis jetzt nichts geschehen, sie werden mit Straflosigkeit belohnt.“

Sürgün Taşkaya schloss mit den Worten: „Bis unsere Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit erfüllt sind, wird der Galatasaray-Platz der Ort sein, an dem wir uns treffen, um unsere Angehörigen zu finden.“

„Ich suche seit 25 Jahren meinen Vater“

Anschließend richtete die Ehefrau von Taşkaya, Sultan Taşkaya, einige Worte an die Anwesenden und sagte: „Wir werden mit unserem Kampf um Gerechtigkeit weitermachen, bis die Täter gefunden werden.“

Serpil Taşkaya, die Tochter von Hüseyin Taşkaya erzählte, dass sie sieben Jahre alt war, als ihr Vater verschwand. Sie sagte: „Seit 25 Jahren suche ich meinen Vater. Auch dieses Jahr konnten wir am Bayram keine Blume auf ein Grab für ihn legen. Man hat uns dazu verurteilt, kein Feste zu feiern. Und dabei bleibt es nicht; unsere Liebsten sind verschwunden, aber wenn wir nach ihnen fragen und sie suchen, werden wir mit unmenschlichen Methoden daran gehindert. Der Galatasaray-Platz ist der Ort, an dem meine und die Geschichte anderer Kinder von Verschwundenen angefangen hat. Als Angehörige der Verschwunden ist der Galatasaray-Platz unser Friedhof. Seit ich neun Jahre alt bin,  lege ich auf diesem Platz Blumen für meinen Vater nieder.“

„Wir werden das Erbe weiterführen“

Hasan Karakoç, Bruder des in Polizeigewahrsam verschwundenen Ridvan Karakoç, sucht seit 23 Jahren nach ihm. Er erinnerte an diejenigen, die auf der Suche gestorben sind: „Gestern jährte sich der Todestag von Asiye Karakoç. Sie und die anderen Mütter haben sich den Mördern und der Grausamkeit entgegengestellt. Wir werden das uns hinterlassene Erbe niemals aufgeben. Sie mussten gehen, ohne ihren Kindern wenigsten ein Grab schenken zu können.“