Neue Verfassung notwendig
Auf dem Rückflug von seinem Besuch in Ungarn beantwortete der Staatspräsident der Türkei, Reccep Tayyip Erdoğan, Fragen von Journalist:innen. Zu den Beschlüssen des 12. Kongresses der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), sich aufzulösen und zu entwaffnen, äußerte er: „Da sie sich von der Herrschaft der Waffen befreit, wird die DEM-Partei die Möglichkeit haben, ihren politischen Kampf auf eine ganz andere Weise fortzusetzen.“ Des Weiteren betonte er die Notwendigkeit und Bereitschaft, eine neue Verfassung auszuarbeiten und gab bekannt, dass er nicht vorhabe, erneut zu kandidieren.
Die DEM-Partei kann sich Vorteile verschaffen
Erdoğan äußerte sich der Presse gegenüber auf Nachfrage zu den jüngsten Entscheidungen der PKK und bezog sich hierbei auf die Rolle und Möglichkeiten der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM). Mit mehr als 50 Parlamentsabgeordneten habe die DEM-Partei nun die Möglichkeit sich neue Vorteile zu verschaffen. Wenn sie es schaffe, ihren Einfluss in dieser neuen Periode geltend zu machen, würde dies letztendlich sowohl der Parteibasis wie auch dem gesamten Land zugute kommen.
„Die Türkei kann mit dieser Verfassung nicht vorankommen“
Auf die Frage nach Forderungen nach einer neuen Verfassung, erwiderte Erdoğan, dass die letzten 40 Jahre gezeigt hätten, dass eine Gesellschaft nicht auf Grundlage einer Verfassung, die von Putschisten geschrieben wurde, vereint werden könne. Es sei zum jetzigen Zeitpunkt eine zivile Verfassung notwendig: „Als AK-Partei arbeiten wir an dieser Aufgabe. Wir haben auch einigen unserer Kollegen Aufgaben zugewiesen. Die eigentliche Frage ist, ob sich die Republikanische Volkspartei (CHP) uns auf diesem Weg zur Ausarbeitung einer gemeinsamen zivilen Verfassung anschließen wird. Das ist das Entscheidende. Wir sagen, lasst uns zusammenarbeiten. Lasst uns unsere Kommissionen einrichten und gemeinsam mit diesen Kommissionen zügig eine zivile Verfassung ausarbeiten und sie unserem Volk vorlegen.“
Erdoğan merkte an, dass es kein Problem mit den ersten vier Artikeln gebe, und fügte hinzu: „Wir werden nur den Fahrplan festlegen. Wir können unsere Delegationen schnell bilden. Das haben wir während meiner Amtszeit als Premierminister getan, und wir können es wieder tun. Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Wir wollen die neue Verfassung nicht für uns, sondern für unser Land. Ich habe keine Lust, wiedergewählt zu werden oder erneut zu kandidieren.“
Die ersten vier Artikel der türkischen Verfassung
In den ersten vier Artikeln der Verfassung der Republik Türkei wird die Mentalität „eine Flagge, eine Sprache, eine Nation, ein Staat“ festgeschrieben und als unveränderlich manifestiert. Die KCK brachte in ihrer Erklärung zum Tag der kurdischen Sprache zum Ausdruck, dass diese „auf Rassismus und der Überzeugung, dass nur ein einheitliches Grundprinzips des Seins und der Wirklichkeit existiert“ beruhe.
Verfassungsänderung von 2017/18: Das Präsidialsystem
Bei seinen Äußerungen scheint Präsident Erdoğan außer Acht zu lassen, dass er selbst die Zeit nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 für umfassende Verfassungsänderungen nutzte, um das von ihm gewünschte Präsidialsystem zu installieren. Hiermit bewegte sich der türkische Staat ein deutliches Stück von der parlamentarischen Demokratie weg.
Das in Berlin ansässige Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. (Civaka Azad) beurteilte die geplanten Änderungen seinerzeit wie folgt: „Im Ergebnis bedeuten diese Änderungen also nichts anderes, als dass das geplante Präsidialsystem in der Türkei den Weg in eine Diktatur eröffnet. Die Funktion des Parlaments wird praktisch außer Kraft gesetzt, während die Macht in den Händen des Staatspräsidenten konzentriert wird.“
Hintergrund türkische Verfassung
Die Verfassung der Republik Türkei basiert auch heute noch – trotz zahlreicher Änderungen – auf der dritten Verfassung von 1982. Zu ihrer Geschichte fasste Civaka Azad 2013 zusammen: „Wir wollen uns erinnern – die türkische Armee (TSK) unternahm zwei Mal, am 27. Mai 1960 und am 12. September 1980, einen Putsch, zwang weiterhin 1971 und 1997 die demokratisch gewählte Regierung zum Rücktritt. Diese Putsche wurden mit Verfassungsverstößen begründet.
Die aktuell gültige Verfassung wurde nach dem Militärputsch von 1980 unter der Regie des Militärs geschrieben. Die Verfassung zur Zeit der Republikgründung war unter der Prämisse einer besonderen Betonung des Türkentums neu verfasst worden. Diese Art von Verfassung ist das Schlimmste, was einem multikulturellen Land wie der Türkei passieren kann. Das daraus resultierende Leid müssen nun die Menschen dort ertragen.“