Hunderte Festnahmen in Istanbul

Bei Protesten zum 1. Mai in Istanbul sind Hunderte Menschen festgenommen worden. Die Polizei setzte Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer ein.

Widerstand gegen Demonstrationsverbot am 1. Mai

In Istanbul sind Hunderte Menschen bei Protesten zum 1. Mai festgenommen worden. Die geplante Kundgebung von Gewerkschaften und Berufsverbänden auf dem zentralen Taksim-Platz wurde trotz eines gegenteiligen Urteils des Verfassungsgerichts verboten. Der Verband der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK), die Konföderation der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes (KESK) und viele weitere Organisationen und Parteien mobilisierten daher nach Saraçhane, um von dort aus dem Verbot zu trotzen und zum Taksim zu laufen. Dem Aufruf folgten Zehntausende Menschen. Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzte, griff die Polizei mit Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern an. Mehrere Menschen brachen zusammen und wurden von anderen Aktivist:innen notversorgt.


Die Demonstrant:innen leisteten entschlossene Gegenwehr und riefen „Der Widerstand ist überall, Taksim ist überall“. Immer wieder rückten Aktivist:innen mit Fahnen in den Händen gegen die Polizeiabsperrung vor. Die Gewerkschafts- und Berufsverbände DISK, KESK, TMMOB, TTB und TDB erklärten die Aktion schließlich für beendet. Als sich die Menschenansammlung auflöste, kam es zu Massenfestnahmen. Nach Angaben der Anwaltsvereinigung ÇHD, die in ihrem Istanbuler Büro einen Krisentisch eingerichtet hat, wurden bisher 216 Festnahmen in Saraçhane und an anderen Sammelpunkten bestätigt.


Verfassungsgericht: Taksim-Verbot am 1. Mai rechtswidrig

Seit Jahren werden Kundgebungen zum Tag der Arbeit auf dem Taksim untersagt. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Ausschreitungen, als regimekritische Organisationen und Gewerkschaften trotz Verbots versuchten, auf den Platz vorzudringen. Der türkische Verfassungsgerichtshof stellte im vergangenen Dezember fest, dass Verbote von Mai-Demonstrationen auf dem Taksim rechtswidrig sind. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in dem Urteil mit Verweis auf Artikel 34 der türkischen Verfassung. Dieses Recht gelte erst recht am 1. Mai auf dem Taksim, da dieser Platz für Gewerkschaften und Werktätige eine besondere Bedeutung habe.

Platz spiegelt kollektives Gedächtnis der Werktätigen wider

Am 1. Mai 1977 eröffneten dort Heckenschützen das Feuer auf eine von der Föderation revolutionärer Arbeitergewerkschaften (DISK) organisierten Demonstration mit etwa 500.000 Teilnehmenden. Mindestens 34 Menschen starben, etwa 200 wurden verletzt. Bis heute ist unklar, wer die Täter waren. Darauf geht auch der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil ein: „Die Ereignisse am 1. Mai 1977 auf dem Taksim-Platz haben sich in das soziale Gedächtnis eingebrannt. Nach diesem Tag hat dieser Ort für viele Komponenten der Gesellschaft, im Besonderen für Arbeiter und Gewerkschaften und im Hinblick auf die Mai-Feierlichkeiten, einen symbolischen Wert erlangt“, heißt es im Urteil des Verfassungsgerichts, das sich dazu mit einer Beschwerde von DISK befasste. „Der Taksim ist ein Baustein von Gewerkschaftskultur und spiegelt die Existenz des kollektiven Gedächtnisses der Werktätigen wider. In diesem Sinne hat jeder Mensch, der sich als Teil dieser Kultur versteht, das Recht, am 1. Mai dort zu sein, um die Bedeutung, die der Taksim-Platz zum Ausdruck bringt, unmittelbar zu erleben und die gesammelten Erfahrungen an weitere Generationen weiterzugeben.“