Zahl der Inhaftierungen nach 1. Mai gestiegen

Die Zahl der Inhaftierungen im Zusammenhang mit der verbotenen Mai-Demonstration in Istanbul ist gestiegen. Knapp 50 Menschen sitzen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz und Widerstands gegen die Staatsgewalt in U-Haft.

Mittlerweile 49 Menschen in U-Haft

Die Zahl der Inhaftierungen im Nachgang an die Mai-Demonstration zum Taksim-Platz in Istanbul ist gestiegen. Seit Montagabend befinden sich elf weitere Linke auf Anordnung der Strafabteilung des Amtsgerichts der westtürkischen Metropole in Untersuchungshaft. Nach Angaben der Gewerkschaft Umut-Sen handelt sich dabei um Studierende sowie Mitglieder der Kaldıraç-Bewegung, der Volkshäuser und der Partei der Arbeiterbewegung (EHP), die am Sonntag bei Razzien festgenommen worden waren. Neben dem vermeintlichen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz werde ihnen auch Widerstand gegen die Staatsgewalt und Propaganda für illegale Organisationen zur Last gelegt. Damit sitzen insgesamt 49 Menschen im Zusammenhang mit den Istanbuler Protesten zum internationalen Tag der Arbeit derzeit im Gefängnis.

Am 1. Mai waren in Istanbul mehr als 200 Menschen festgenommen worden, die an einer Demonstration zum Taksim-Platz teilnehmen wollten. Mindestens 60 weitere Festnahmen erfolgten im Nachgang im Zuge zweier Großrazzien. Die türkischen Behörden hatten kurz vor dem Maifeiertag erklärt, dass der Taksim nicht für die jährlichen Proteste genutzt werden dürfe. Linke Organisationen, Gewerkschaftsverbände und politische Parteien riefen dennoch zu der Demonstration auf, auch mit Verweis auf ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs. Die Polizei setzte Gummigeschosse, Wasserwerfer und Tränengas gegen die Teilnehmenden ein. Zahlreiche Demonstrierende, aber auch Medienschaffende, wurden verletzt.

Das Verfassungsgericht hatte Ende vergangenen Jahres entschieden, dass ein Demonstrationsverbot am Taksim-Platz das Recht auf friedliche Versammlung verletze. „Der Taksim ist ein Baustein von Gewerkschaftskultur und spiegelt die Existenz des kollektiven Gedächtnisses der Werktätigen wider. In diesem Sinne hat jeder Mensch, der sich als Teil dieser Kultur versteht, das Recht, am 1. Mai dort zu sein, um die Bedeutung, die der Taksim-Platz zum Ausdruck bringt, unmittelbar zu erleben und die gesammelten Erfahrungen an weitere Generationen weiterzugeben“, heißt es unter anderem in dem Urteil.

Werktägige, Gewerkschaftsmitglieder und Aktive verschiedener linker Gruppen hatten sich am 1. Mai unter anderem im Stadtviertel Saraçhane versammelt, um zum Taksim-Platz zu marschieren. Dort wollten sie für Sozialpolitik und ein Ende von Ausbeutung und Unterdrückung entlang von Klasse, Ethnizität und Geschlecht protestieren. Innenminister Yerlikaya hatte neben Wasserwerfern und etlichen Polizisten, die alle Wege zum Taksim versperrten, auch Scharfschützen postieren lassen. Insgesamt waren am Mittwoch in Istanbul mehr als 42.000 Polizeibeamte im Einsatz. Ob und wann Anklage gegen die verhafteten Demonstrierenden erhoben wird, ist indes noch unklar, gilt aber als wahrscheinlich. Sollte es zu Verurteilungen kommen, drohen Haft- und Geldstrafen. Foto: Zeyno Kuray/ANF


DEM: Rechtswidriges Verbot als Grundlage für Schlag gegen politischen Feind

Die DEM verurteilte das Vorgehen der Behörden und Justiz und warf Innenminister Ali Yerlikaya sowie dem Gouverneur von Istanbul vor, eine rechtswidrige Polizeimaßnahme angeordnet zu haben. Diese wiederum sei als Grundlage für Verhaftungen „politischer Feinde“ herangezogen worden. Die Partei forderte die sofortige Freilassung aller Verhafteten und verwies in einer Mitteilung darauf, dass die Urteile des Verfassungsgerichts bindend seien. „Entscheidungen des höchsten Gerichtes des Landes dennoch zu ignorieren und den Taksim-Platz am 1. Mai als eine Art Schlachtfeld anzusehen, auf dem selbsterklärte Feinde und Gefahren mit Scharfschützen, Wasserwerfern und Absperrungen bekämpft werden, zeugt von der Verachtung des herrschenden Regimes gegenüber Arbeit, Werktätigen und Gewerkschaften. Unser Widerstand wird weitergehen, bis Taksim frei ist.“

Dutzende Tote bei Taksim-Massaker 1977

Der Taksim-Platz im Herzen Istanbuls, auf dem 2013 die landesweiten Gezi-Proteste ihren Ausgang nahmen, hat für die Arbeiterbewegung der Türkei eine hohe symbolische Bedeutung. Am 1. Mai 1977 starben dort mindestens 34 Teilnehmer einer Kundgebung, als Heckenschützen das Feuer auf die Menge eröffneten. Es handelte sich um die größte Mai-Demonstration in der Geschichte des Landes und wurde von der Föderation revolutionärer Arbeitergewerkschaften (DISK) organisiert. Zu den Dutzenden Toten kamen auch etwa 200 Verletzte. Rund 500 Menschen wurden festgenommen. Als Täter des Massakers werden bis heute Scharfschützen der NATO-Konterguerilla Gladio vermutet.