„Ein systemkonformes Wirtschaftsprogramm ist nutzlos“

Angesichts der bevorstehenden Wahlen in der Türkei kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler Özgür Müftüoğlu die Programme der AKP und CHP als lebensverachtend und wirft dem Bündnis für Freiheit und Arbeit mangelnde Klarheit in Wirtschaftsfragen vor.

Die von Neoliberalismus und Kriegswirtschaft bestimmte Ökonomie in der Türkei befindet sich in einer tiefen Krise. Während die türkische kapitalistische Kolonialökonomie in Nordkurdistan angesichts von Krieg, Vernachlässigung, brutaler Ausbeutung und Zerstörung unzählige Leben fordert, wird auch die Armut in der Türkei proportional zum wachsenden Reichtum der Anhänger des Regimes immer dramatischer. Insbesondere die schrecklichen Folgen des Erdbebens haben gezeigt, wie sehr der neoliberale Kapitalismus des AKP/MHP-Regimes abgewirtschaftet hat. Nun stehen am 14. Mai Wahlen an. Das Bündnis für Arbeit und Freiheit, dem auch die HDP angehört, fordert das Regime heraus, ebenfalls gegen die Regierung tritt die Nationale Allianz an, die von der kemalistischen CHP und der IYI-Partei, einer Abspaltung der faschistischen MHP, bestimmt wird. Im Falle einer neuen Regierung ist eine Umgestaltung der Ökonomie dringend geboten. Der Wirtschaftswissenschaftler Özgür Müftüoğlu erklärt im ANF-Interview, dass das Bündnis für Arbeit und Freiheit ein für eine neue Regierung richtungsweisendes Beispiel geben, den Kampf der Arbeiterklasse weiterführen und die Forderungen der Werktätigen und der breiten Masse der Armen zum Ausdruck bringen sollte.

Die Wirtschaft befindet sich schon seit langem in der Krise. Wie hat sich die Lage durch das Erdbeben verändert?

Man muss die wirtschaftlichen, humanitären, sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen der Folgen des Erdbebens als Ergebnis der bisherigen Wirtschaftspolitik sehen. Wir haben bereits bei der Covid-19-Pandemie gesehen, dass die bisherigen wirtschaftlichen Prioritäten nicht im Sinne der Gesundheit der Menschen genutzt wurden. Das wurde beim Erdbeben ebenfalls deutlich. Es ist klar geworden, dass menschliche Leben in keiner Phase der Bauaufsicht berücksichtigt wurden.

Die Haushaltsmittel wurden einerseits in Rüstungsausgaben umgeleitet und andererseits an das Kapital weitergeleitet, wodurch viele Unternehmen und Banken riesige Gewinne erzielten. Das Ergebnis dieser Entwicklung wurde beim Erdbeben sichtbar. Die Epidemie hat es schon vorher gezeigt, leider konnten wir das damals nicht deutlich genug vermitteln, aber das Erdbeben hat es noch viel deutlicher gemacht. Es hat auch die Erbärmlichkeit der jetzigen Regierung offenbart. Es hat gezeigt, dass die Regierung nicht in der Lage ist, auch nur ein Minimum an Organisation bereitzustellen, um das Leben der Menschen zu schützen oder zumindest die Grundbedürfnisse der Menschen nach einer solchen Katastrophe zu befriedigen. Es wurde deutlich, dass die Regierung keine Präventivmaßnahmen ergriffen hat und nicht auf die Katastrophe vorbereitet war. Denn die Mittel waren bereits anderweitig verwendet worden. Jetzt kommt immer mehr ans Licht.

So werden die Kosten des Erdbebens auf 103 Milliarden Dollar, d. h. rund zwei Billionen Lira, geschätzt. Die zusammengebrochene landwirtschaftliche und industrielle Produktion in der Erdbebenregion wird einen negativen Einfluss auf die Gesamtwirtschaft haben. Es scheint, dass diese negative Entwicklung die Preise weiter in die Höhe treiben wird. Immerhin gab es in dieser Region eine große landwirtschaftliche Produktion. Das Leistungsbilanzdefizit ist eindeutig, die Exporte sind zurückgegangen. Die Importe haben enorm zugenommen. In der letzten Zeit gab es eine Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Während zum Beispiel der Exportpreis im Januar 2002 63 Prozent betrug, lag er im Januar 2023 bei 57,6 Prozent. Diese Daten stammen aus der Zeit vor dem Erdbeben. Daher entwickeln sich alle Zahlen in eine negative Richtung.

Wie soll sich die Wirtschaft in der nächsten Zeit erholen?

Es wurde eine Kostenkalkulation erstellt und sofort mit Bauarbeiten begonnen. Dabei geht es um die bevorstehenden Wahlen. Wie schon zuvor wurde ohne Rücksicht auf Menschenleben und Folgen ein Mechanismus der Umverteilung von Ressourcen an der Regierung nahestehende Kapitalfraktionen in Gang gesetzt. Aufgrund dieser Situation wird man in naher Zukunft leider wieder zu den gleichen Resultaten kommen.

Ich betrachte diese Situation von zwei Seiten. Die politische Situation ist ohnehin klar. Die Ausschreibungen wurden schnell vergeben, die Regierung, die in 40 Tagen nicht in der Lage war, Zelte bereitzustellen, redet jetzt von Häusern, die angeblich innerhalb eines Jahres gebaut werden sollen. Dem steht auf der anderen Seite die Nationale Allianz als eine alternative Machtoption gegenüber. Diese Allianz trifft einige allgemeine Aussagen, aber was für ein Wirtschaftsprogramm verfolgt sie? Das ist nicht ganz klar. Es gibt eine Finanzierungsnotwendigkeit angesichts der Zerstörung. Wer wird die Rechnung dafür bezahlen? Wir befinden uns bereits in einer großen Wirtschaftskrise und haben schon vor dem Erdbeben über die riesige Rechnung dafür gesprochen. Jetzt ist der Preis der Erdbebenfolgen hinzugekommen.

Wer soll dies Ihrer Meinung nach bezahlen?

Hier gibt es nicht viele Möglichkeiten. Entweder man verteilt die Kosten auf große Teile der Gesellschaft, d.h. man überträgt die Last auf sie durch indirekte Steuern usw., was zu einer weiteren Verarmung der Arbeiterinnen und Arbeiter führt, oder man greift zur Alternative. Wir sollten nicht vergessen, dass es bei all diesen Krisen, selbst bei der Pandemie, immer Kapital gibt, das diese in eine Chance verwandelt und unglaubliche Gewinne macht. Werden wir uns diesen also zuwenden? Mit anderen Worten, werden wir sie die Rechnung bezahlen lassen? Das ist die Hauptfrage. Wenn wir diesen Punkt betrachten, ist die Präferenz der AKP/MHP-Regierung klar. Sie will die Rechnung wieder der Gesellschaft aufbürden. Ich denke, die Nationale Allianz hat hier keine sehr unterschiedliche Meinung.

Warum?

Sowohl Bilge Yılmaz, einer der Wirtschaftspolitiker der IYI-Partei, als auch Ali Babacan von der DEVA und die CHP äußern sich zu diesem Thema. Sie zeigen, dass ihre Präferenzen nicht weit von der von der AKP bis heute umgesetzten Politik entfernt sein werden. Im Großen und Ganzen zeichnet sich ein solches Bild ab. Und lassen Sie es mich offen sagen: Alle scheinen die Amtszeit von Mehmet Şimşek [Ehemaliger AKP-Finanzminister, galt als Garant für Finanzstabilität in der Türkei auf internationaler Ebene und hat den größten Teil der Investitionssummen in den Krieg gesteckt], sein Programm und dessen soziale Ergebnisse vergessen zu haben. Es wird so getan, als ob Şimşek perfekt gewesen wäre, als ob er wunderbar war. Leider lobt die Opposition das von Babacan, Mehmet Şimşek oder der AKP 20 Jahre lang umgesetzte Wirtschaftsprogramm. Sie tut so, als wäre die ganze Misere in den letzten drei oder vier Jahren entstanden. Eine solche Auffassung kann nichts Neues bieten.

Sie haben keine Alternative zu dem Wirtschaftsprogramm, das für die schwerwiegenden Folgen der Pandemie, des Erdbebens und der Überschwemmungen verantwortlich ist. Wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem wir eine Wirtschaftspolitik haben, die nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse der Gesellschaft nach Wohnen und Gesundheit zu befriedigen und die Sicherheit des Lebens zu gewährleisten, ja nicht einmal die Ernährung der Menschen sicher zu stellen. Die Menschen hungern. Wie soll sich das ändern? Wird das, was an die Stelle dieser Regierung treten wird, diese Probleme wirklich lösen? Ich denke, dieser Punkt ist wichtig.

Da die Wahlen anstehen, was sollte jetzt geschehen, wie sollte ein politischer Plan aussehen?

Ich weiß nicht, ob die alte Regierung gehen und eine neue kommen wird, aber wie ich schon sagte, herrscht große Unsicherheit über das Wirtschaftsprogramm, das diejenigen, die nach den Wahlen regieren, umsetzen werden. Es gibt kein Programm, das verhindert, dass die Arbeiterklasse und die Armen die Zeche zahlen und die weitere Verarmung dieser Gruppen verhindert. Auch das Bündnis für Arbeit und Freiheit zum Beispiel hat seine Politik in diesem Sinne nicht klar dargelegt. Natürlich hat es ein Programm, aber es hat nichts vorgelegt, was das konkretisiert und Vertrauen weckt. Natürlich wird das Bündnis für Arbeit und Freiheit in der gegenwärtigen Situation nicht an die Macht kommen. Es wird die Rolle haben, Druck auf diejenigen auszuüben, die in der kommenden Periode regieren werden. In diesem Sinne erwarte ich, dass es ein richtungsweisendes Beispiel setzt, den Kampf der Arbeiterklasse weiterführt und die Forderungen der Werktätigen und der breiten Masse der Armen zum Ausdruck bringt. Ein Wirtschaftsprogramm, das kein Problem mit dem System hat, ist nutzlos.