YPG-Sprecher Nûrî Mehmûd: Türkische Illusion

Nûrî Mehmûd, der Sprecher der Volksverteidigungskräfte YPG, hat die Vorstellungen der türkischen Armee, innerhalb einer Woche den nordsyrischen Kanton Efrîn zu besetzen, als „Illusion“ bezeichnet.

Durch die Operation, die das syrische Baath-Regime mit russischer Unterstützung aus der Luft zur Befreiung der im Norden Syriens gelegenen Provinz Idlib von den Al-Qaida-gesteuerten Gruppierungen Heyet Tahrir El Şam (El Nusra) und Ehrar El Şam gestartet hat, ist Syrien wieder in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit getreten. Der Marsch des Baath-Regimes auf Idlib sorgt in Ankara für Beunruhigung. Das türkische Militär war nach dem „Astana-8-Abkommen“ zwischen dem Iran, Russland und der Türkei über die Errichtung einer befriedeten Zone in Idlib einmarschiert und forciert jetzt gemeinsam mit den Terrorgruppen in der Region einen Angriff auf Efrîn.

Nûrî Mehmûd, Sprecher der Volksverteidigungskräfte YPG, hat sich im Interview mit ANF zu der Idlib-Operation des Baath-Regimes, der von Erdoğan angestrebten Besatzung Efrîns und seinen Behauptungen über die Gründung einer „30.000-köpfigen Armee“ durch die internationale Koalition unter Führung der USA in Nordsyrien geäußert.

Der russische Präsident Putin hat Ende des Jahres 2017 die Beendigung des Krieges in Syrien deklariert. Anfang 2018 kam es jedoch zu erneuten Kampfhandlungen in der Region. Das Baath-Regime hat mit russischer Unterstützung eine Operation in Idlib gestartet. Die Türkei hat verärgert darauf reagiert. Wie ist die aktuelle Lage in Idlib?

Bekanntlich betrachtet der türkische Staat sich als ein Modell für den gesamten Mittleren Osten. […] Als in Syrien die ersten Proteste begannen, hat sich der damalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu in Syrien mit Assad getroffen, um eine Versöhnung mit den Moslem-Brüdern zu erwirken. Dem AKP-Vorsitzenden Tayyip Erdoğan schwebte vor, aus seinem Palast den Mittleren Osten zu regieren. Bei Besuchen in Ländern des Mittleren Ostens benahm er sich, als ob er sich in einer Provinz der Türkei befinde. Der Mittlere Osten hatte jedoch andere Erwartungen. Die Hoffnung der Menschen war der arabische Frühling.

Der türkische Staat betrachtete eine Intervention in Syrien als sehr einfache Sache. Er sah die Region als seinen Vorgarten an. Durch seinen Kontakt mit der Moslembruderschaft wurde Syrien gespalten. In Syrien traten plötzlich viele verschiedene bewaffnete Gruppierungen auf. Sie sind alle über die Türkei nach Syrien gekommen. Als sich ein alternatives Projekt [in Rojava] entwickelte, ließ die Türkei von Damaskus ab und begann uns in Serêkanî zu bekämpfen. Uns liegen viele Dokumente vor, die belegen, dass die damaligen Angriffe vom türkischen Staat organisiert wurden.

Anschließend trat der IS auf den Plan. Der IS-Angriff auf Kobanê machte der AKP-Regierung große Hoffnung. […] Jetzt will die Türkei im Gegenzug zu Idlib Efrîn einnehmen. Für das Erdoğan-Regime ist es weniger wichtig, ob die türkische Armee in Efrîn einmarschiert oder nicht. Das eigentliche Ziel ist, das Projekt in Nordsyrien zunichte zu machen. In Nordsyrien ist ein Projekt entstanden, mit dem eine Lösungsperspektive für die Syrien-Krise vorgelegt wird.

Was stört den türkischen Staat daran, dass das syrische Regime in einer syrischen Provinz eine Operation gegen dschihadistische Gruppierungen, die mit Al Qaida auf einer Linie stehen, begonnen hat?

Die türkischen Machthaber sehen Idlib als letzte Chance für sich selbst. Die Türkei hat alle dschihadistischen Gruppierungen einschließlich Heyet Tahrir El Şam und Ehrar El Şam unter einem Dach gesammelt. Sollte das Baath-Regime eine Niederlage in Idlib erfahren, ist der eigentliche Grund nicht die dortigen bewaffneten Gruppierungen, sondern der türkische Staat. Das AKP-Regime nutzt diesen Trumpf, um Syrien, Russland und den Iran unter Druck zu setzen.

Erdoğan hat zu Beginn der Idlib-Operation erneut die Besatzung Efrîns zum Thema gemacht. Handelt es sich dabei um einen Zufall? Oder gibt es einen direkten Zusammenhang?

Erdoğan hofft auf eine Niederlage des Baath-Regimes in Idlib, weil sich dadurch neue Verhandlungsspielräume bieten. Efrîn und Idlib werden zur Verhandlungsmasse zur Durchsetzung eigener Interessen gemacht. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass Efrîn nicht allein ist. Efrîn ist die Fortsetzung von Kobanê. Für Kobanê haben sich weltweit Menschen eingesetzt. Efrîn befindet sich in der gleichen Position. […] Efrîn ist gut gerüstet für die eigene Verteidigung. Die Vorstellung des türkischen Militärs, Efrîn innerhalb einer Woche zu besetzen, ist eine Illusion.

Ein türkischer Angriff auf Efrîn ohne die Zustimmung der USA und Russland erscheint kaum möglich. Ist eine entsprechende Genehmigung erteilt worden?

Die USA und Russland tragen eine große Verantwortung. Es ist bedenklich, dass sie bisher noch keine klare Position zu einem türkischen Angriff auf Efrîn bezogen haben. Möglicherweise soll diese Zurückhaltung den eigenen Interessen dienen. Unserer Meinung nach wäre es jedoch im Interesse beider Mächte, sich auf die Seite der Völker des Mittleren Ostens zu stellen.

Die demokratischen Strukturen, die in Nordsyrien aufgebaut werden, machen Hoffnung auf eine Lösung für die gesamte Region. Wir werden niemals vergessen, wie sich die Völker der Türkei für die Revolution in Nordsyrien eingesetzt haben. Von unserer Seite ist niemals eine Bedrohung für die Türkei ausgegangen. Dabei handelt es sich um eine Manipulation der AKP-Regierung. Wir sind zu einer gewaltlosen Lösung aller Probleme bereit. Wir sind offen für einen Dialog. Den IS haben wir vernichtet, weil er eine terroristische Organisation ist. Jetzt versuchen wir, alle Probleme mit demokratischen Methoden zu lösen. […]

In Erklärungen der internationalen Koalition gegen den IS wird von einem 30.000-köpfigen Heer gesprochen, das die Grenze Nordsyriens schützen soll. Wie ist das zu verstehen? Wird eine neue Armee gegründet?

Es ist nichts Neues, dass die Grenzen Nordsyriens von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) und den YPG/YPJ verteidigt werden. Wir verteidigen uns bereits seit sechs Jahren. Im Kampf gegen den IS sind wir gemeinsam mit den USA vorgegangen und haben diese Terrororganisation vernichtet. Unsere Partnerschaft wird nach der Niederlage des IS anhand der Strategie zur Stabilisierung Syriens fortgesetzt.

Die USA und die internationale Koalition haben bereits etliche Male erklärt, die QSD zu unterstützen. Vermutlich handelt es sich bei der US-Erklärung um diesen Rahmen. Der türkische Staat manipuliert diese Erklärung jedoch, um die eigene Aggression zu untermauern. Es liegt jedoch gar keine neue Situation vor. Wir haben mit der Unterstützung, die uns die USA gegeben hat, niemals einen Staat angegriffen, sondern den IS-Terror beendet.