Was geschieht in Idlib und Efrîn?

In der aktuellen politischen Lage wäre ein Angriff auf Efrîn irrational. Doch wenn wir uns daran erinnern, dass bislang keine Handlung Erdoğans logisch war, ist ein Angriff nicht auszuschließen.

Der türkische Staatspräsident nähert sich mit seiner Politik erneut den USA an. In Bezug auf den Kanton Efrîn drohte er mit den Worten: „Entweder werden sie sich ergeben, oder wir werden Efrîn dem Erdboden gleichmachen. Innerhalb einer Woche wird jeder sehen, was passiert“. Was aber steht hinter dieser Drohung?

In Idlib findet ein unausgesprochener Krieg statt

Die Türkei schoss im November 2015 ein russisches Flugzeug ab. Später wurde der russische Botschafter Andrej Karlow im Dezember 2016 vor laufenden Kameras erschossen. Russland wollte diese Situation nutzen, um die Türkei aus Syrien zu entfernen. Zuerst versuchte Russland, die türkeinahen Gruppen aus Aleppo zu vertreiben. Die Türkei und Russland verständigten sich in diesem Zuge auf den Abzug der Gruppen aus Aleppo. Diese Gruppen wurden aus Aleppo nach Idlib verschoben. Die Türkei wollte im Gegenzug Jerablus und Al-Bab, um den Kurden und der Föderation in Nordsyrien den Wind aus den Segeln zu nehmen und weiterhin Einfluss in Syrien zu haben. Russland akzeptierte diesen Plan, um Druck auf die Kurden aufzubauen und die Türkei dazu zu bewegen, die Gruppen aus Aleppo abzuziehen. Die Türkei besetzte daraufhin zuerst Jerablus und dann Al-Bab. Doch Erdoğan genügte dies nicht. Von Al-Bab stieß er bis nach Marea und Xeterin vor. Während die Türkei auf der einen Seite mit den islamistischen Gruppen in Idlib die Gebiete um Atmeh, Dschabla Berekat und Ibbin Samaan halten wollte, um Efrîn einzukreisen, konnte sie sich auf der anderen Seite nicht von Aleppo lösen. Mit dem Plan zur Besetzung Efrîns wollte die Türkei ihre Pläne für Aleppo in gewisser Weise fortführen.

Mit dem von Russland, dem Iran und der Türkei vereinbarten Plan der „Deeskalationszonen“, sollte angeblich der Krieg in einigen Regionen Syriens gestoppt werden. Der eigentliche Plan hingegen ist es, die türkeinahen Gruppen vollständig aus Idlib zu vertreiben. Deswegen wurden die Astana-Gespräche eingeleitet. In die Verhandlungen wurden auch die türkeinahen Gruppen einbezogen. Doch die Türkei hielt die al-Nusra von den Sitzungen fern. Ziel war es, die alte Politik in Syrien fortzusetzen. Im letzten Herbst wurde beschlossen, dass die Türkei nach Idlib vorrückt. Mit dem Einverständnis Russlands und des Irans für diese Offensive sollte die Türkei in Auseinandersetzungen mit al-Nusra verwickelt werden. Doch die Türkei intervenierte nach Absprache mit einigen Kreisen der Al-Nusra in Idlib. Anstatt bestimmte Stellungen in Idlib einzunehmen, wurde mit der Einkreisung Efrîns begonnen. An Gruppen in Idlib, wie zum Beispiel al-Nusra, wurden schwere Waffen geliefert. Die Türkei stellte die Gruppen in Idlib zudem als Teil der „Schutzschild Euphrat“-Kräfte dar. Erdoğan änderte einfach den Namen in „Schutzschild Ost“.

Als die Türkei den ihr von Russland und dem Iran zugetragenen Plan zur Entfernung der Gruppen aus Idlib nicht erfüllte, begann Russland zusammen mit der syrischen Armee die derzeit laufende Operation in Idlib.

Es gibt nun schwere Auseinandersetzungen zwischen den türkeinahen Gruppen und der Armee des syrischen Baath-Regimes in Idlib. Russland unterstützt das Regime aus der Luft. Die türkeinahen Gruppen hingegen kämpfen mit den von der Türkei gelieferten Panzern, Artillerie und Raketen gegen das syrische Regime. Es handelt sich dabei im Endeffekt um einen unausgesprochenen Krieg zwischen der Türkei und dem syrischen Regime. Gegenwärtig bewegen sich an einigen Orten in Idlib türkische Soldaten zusammen mit den Gruppen, die gegen die syrische Armee kämpfen. Es ist im Grunde genommen kein Krieg zwischen den Gruppen und dem syrischen Regime, sondern vielmehr ein unausgesprochener Krieg zwischen der türkischen Armee und dem syrischen Regime.

Vergebliche Aufrufe an Russland

Die Türkei ließ in den letzten Tagen die Botschafter Russlands und des Irans ins Außenministerium einbestellen und forderte das Ende der Operation der syrischen Armee in Idlib. Russland und der Iran machten deutlich, dass sie die Operation nicht beenden werden und sie so lange andauern wird, bis al-Nusra und anderen Gruppen aus Idlib vertrieben oder zerschlagen werden. Diese Erklärungen machen deutlich, dass das Bündnis der Türkei mit Russland taktischer Natur ist. Die Türkei und die mit ihr verbundenen Gruppen in Idlib und anderen Orten Syriens wurden in die Enge getrieben. Der Rückzug der Gruppen aus den betroffenen Gebieten bedeutet das vollständige Ende der fehlgeschlagenen Syrien-Politik der Türkei. Die in die Enge getriebenen Gruppen sind gleichbedeutend mit einem in die Enge getriebenen Erdoğan. Deshalb hielt Erdoğan eine Rede, in der er Efrîn bedrohte und einen Angriff innerhalb einer Woche ankündigte. Erdoğan gab den Termin zur Offensive gegen Efrîn bekannt. Es ist fraglich, ob er Efrîn in dieser Situation angreifen wird und kann, während die USA Vorbereitungen treffen, Nordsyrien anzuerkennen und Russland die Vertreter der Region zum Kongress in Sotschi einlädt.

In solch einer dynamischen politischen Phase wäre ein Angriff auf Efrîn eine etwas irrationale Situation. Doch wenn wir uns daran erinnern, dass bislang keine Handlung Erdoğans logisch war, kann man von der Möglichkeit eines Angriffs sprechen. Doch laut zahlreichen Politikern, Politikexperten und Diplomaten wird im Falle eines Angriffs auf Efrîn der Bürgerkrieg in Syrien auf die Türkei übergreifen.

Im Falle eines Angriffs der türkischen Armee auf Efrîn stellt sich auch die Frage, ob die Auseinandersetzungen nur auf Efrîn begrenzt bleiben werden. Wenn man sich die Erklärungen der Kommandanten der YPG und SDF vor Augen führt, dann scheint es nicht so. Die Bewertung, dass der Krieg nicht auf Efrîn beschränkt bleiben wird und der Bürgerkrieg in Syrien auf die Türkei übergreifen könne, scheint nicht ohne Grundlage.

Kurswechsel in Richtung USA, was wird Russland tun?

Erdoğan übermittelte mit seiner Drohung, dass Efrîn dem Erdboden gleich gemacht werde, die eigentliche Botschaft, dass er erneut mit den USA zusammenarbeiten wolle, obwohl er sich seit fast zwei Jahren mit seiner Rhetorik gegen die NATO-Staaten wendet. Erdoğan verfolgte in den letzten zwei Jahren eine Politik gegen die USA und die anderen NATO-Länder. Seit fast zwei Jahren versucht er zusammen mit Russland und dem Iran zu agieren. Von Anfang an wusste er, dass Russland und der Iran die islamistischen Gruppen zerschlagen wollten. Dieses Ziel wollten sie mithilfe Erdoğans und der Türkei erreichen. In diesem Rahmen wurde der Türkei erlaubt, in Idlib zu intervenieren. Als sie begriffen, dass die Türkei nicht von einer Zusammenarbeit mit al-Nusra und den Gruppen der Muslim-Brüderschaft absehen wird, begannen sie zusammen mit dem syrischen Regime eine Operation in Idlib. Die Kräfte des Regimes rücken derzeit vor. In den kommenden Tagen ist es möglich, dass die türkische und syrische Armee an den Orten, an denen türkische Soldaten als Beobachter eingesetzt sind, aufeinander treffen. Dies zeigt uns, dass die Auseinandersetzungen sich nicht auf die islamistischen Gruppen und das syrische Regime begrenzen lassen.

In dieser Situation beendete die Türkei erneut ihr Bündnis mit Russland und näherte sich den USA an. Es ist schwer zu sagen, wie die USA diesen Schritt bewerten werden. Doch eins ist klar; die USA haben aufgrund des Bündnisses und der Beziehungen der Türkei mit Russland und dem Iran gute Gründe dafür, der Erdoğan-Regierung nicht zu vertrauen.

Die erneute Hinwendung Erdoğans zur USA wird jedoch eine Reaktion Russlands nach sich ziehen. Russland kann die Dokumente zum Abschuss des Flugzeugs und der Ermordung des russischen Botschafters veröffentlichen, welche bislang als Trumpf in der Hinterhand gehalten wurden. Zudem kann Russland die Informationen veröffentlichen, welche die Beziehungen mit Gruppen wie al-Nusra, dem IS und der Muslim-Brüderschaft belegen. Das würde die Verurteilung der Türkei durch die UNO und andere internationale Institutionen zur Folge haben. Russland hat eine Vielzahl von Dokumenten in der Hand, die Ölabkommen der Türkei mit dem Islamischen Staat (IS) oder Waffenlieferungen an den IS und al-Nusra belegen.

Die Bedeutung von Efrîn

Efrîn liegt 60 Kilometer von Aleppo entfernt. Offiziell verfügt das Gouvernement Aleppo über sieben Regionen. Efrîn ist eine davon. Ein Angriff auf Efrîn bedeutet gleichzeitig auch einen Angriff auf Aleppo. Zudem ist der Kanton Efrîn eine der Rohstofflagerstätten Aleppos. Ein Angriff auf Efrîn im Rahmen der Erklärung Erdoğans und der Türkei, sich wieder den USA anzunähern zu wollen, steht zugleich für Absichten, die sich gegen Aleppo richten. Diese Entwicklungen bedeuten den Bruch der Vereinbarungen, die mit Russland über den Abzug der islamistischen Gruppen aus Aleppo getroffen wurden. Die Türkei versucht nun auf eine andere Art und Weise, seine Vorherrschaft über Aleppo und andere Gebiete Syriens auszubauen.

All diese Entwicklungen zeigen, dass die Beziehungen der Türkei mit den USA und Russland eine neue und komplizierte Form angenommen haben. Diese komplizierte Situation zeigt gleichzeitig auch die Isolation der Türkei in ihrer Syrien-Politik. Russland hat die Türkei soweit ausgenutzt, wie es konnte.