Am 10. Juni hat die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) bekannt gegeben, dass die bis zu 12.000 bei ihnen gefangenen IS-Dschihadisten nun vor öffentliche Volksgerichte gestellt werden. Die Verfahren sollen sowohl auf der Grundlage des Völkerrechts als auch des regionalen Rechtsverständnisses geführt werden. Den Prozessen war über Jahre ein vergeblicher Kampf vorausgegangen, die IS-Dschihadisten vor einen internationalen Gerichtshof zu stellen. Aufgrund der menschenrechtswidrigen und sicherheitspolitisch katastrophalen Ignoranz der internationalen Gemeinschaft muss nun die Selbstverwaltung selbst agieren und wird die Verfahren gegen IS-Mitglieder vor Volksverteidigungsgerichthöfen unter dem Dach des Rats für gesellschaftliche Gerechtigkeit führen.
Wann die ersten Prozesse beginnen sollen, ist noch nicht bekannt, allerdings wird der Beginn in den nächsten Tagen erwartet. Die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) sprach mit Rechtsanwalt Ismet Ibrahim vom Anwaltsverband von Nord- und Ostsyrien über die Verfahren. Er geht davon aus, dass die IS-Mitglieder vor allem wegen Delikten wie „Raub“, „Mord“, „Folter“ und „Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Vereinigung“ angeklagt werden.
Bisher wurden nur Menschen aus Nord- und Ostsyrien vor Gericht gestellt
Der Anwalt erinnerte an die Appelle der Selbstverwaltung für die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs und sagte: „Es wurden keine Schritte unternommen, um ein internationales Tribunal einzurichten. Es geht um Staatsangehörige Dutzender Ländern. Einige Staaten haben ein paar Frauen und Kinder, die in Lagern leben, zurückgeholt. Aber es gibt immer noch fast 12.000 Gefangene.“
Prozesse gegen Personen, die aus der Region stammen, werden schon seit 2015 geführt, so Ibrahim: „In Nord- und Ostsyrien gibt es zwei Gerichte für terroristische Straftaten. Eins befindet sich in Qamişlo und das andere in Kobanê. Menschen aus der Region, die sich dem IS angeschlossen haben, wurden bereits vor diesen Gerichten verurteilt. Etwa 12.000 Personen, die von außerhalb kommen, wurden jedoch noch nicht vor Gericht gestellt. In den bevorstehenden Prozessen werden sowohl die Gesetze der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien als auch die internationale Gesetzgebung berücksichtigt.“
Keine Todesstrafe in Nord- und Ostsyrien
Ibrahim führte zu den Anklagen und möglichen Strafen aus: „Jede der Straftaten wird mit einer Mindeststrafe von drei Jahren geahndet; je nach Kategorie der Straftat kann die Strafe bis zu lebenslanger Haft oder verschärfter lebenslänglicher Haft erhöht werden. Wird einem IS-Mitglied keine Straftat wie Mord, Erpressung, Folter, sexualisierte Gewalt usw. nachgewiesen, wird es lediglich wegen ‚Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation‘ angeklagt. Wenn neben der Mitgliedschaft noch andere Straftaten vorliegen (Mord, Übertragung von Mordtaten, Beihilfe, Folter, Entführung usw.), wird dies nach den entsprechenden Artikeln behandelt und es werden entsprechende Strafen verhängt. In Nord- und Ostsyrien gibt es keine Todesstrafe. Seit 2015 wurden viele terroristische Straftäter vor Gericht gestellt, aber niemand wurde zum Tode verurteilt.“
„Die Familien der Gefallenen werden in die Verfahren einbezogen“
Ibrahim sprach ebenfalls über die Verfahrensbeteiligten: „Alle Menschen, die in Nord- und Ostsyrien leben, haben unter dem IS-Terror gelitten. Die Familien der Gefallenen werden an diesen Prozessen als Nebenkläger beteiligt sein. Sie können über den Rat der Familien der Gefallenen oder persönlich teilnehmen. Die Verfahren sind öffentlich und können von den Medien verfolgt werden. Internationale juristische Organisationen werden dazu eingeladen, auch Vertreter der Herkunftstaaten der Angeklagten können teilnehmen. Ich glaube jedoch nicht, dass diese Staaten, die selbst keine Verfahren unterstützt haben, kommen und sich jetzt an den Prozessen beteiligen werden. Es ist eine Forderung des Volkes, diese Prozesse stattfinden zu lassen.“
„Schutz der Rechte der IS-Mitglieder wichtiger Aspekt“
Der Anwaltsverband von Nord- und Ostsyrien werde in den Verfahren eine wichtige Rolle spielen, erklärte Ibrahim: „Für jede Familie von Gefallenen wird ein kostenloser Rechtsanwalt bestellt. Die Angehörigen, die sich nicht in Nord- und Ostsyrien aufhalten, können über ihre Anwältinnen und Anwälte an den Verfahren teilnehmen. Ein wichtiger Aspekt des Verfahrens ist auch der Schutz der Rechte der IS-Mitglieder. Kein Anwalt wird möglicherweise diese Täter verteidigen wollen, aber der Anwaltsverband wird den IS-Mitgliedern das Gesetz und ihre Rechte erklären. Die Verteidigung ist in Nord- und Ostsyrien ein unantastbares Recht. Alle haben das Recht auf Verteidigung, und es handelt sich um ein juristisch garantiertes Recht. Jeder wird die Möglichkeit haben, einen Anwalt oder eine Anwältin für seine Verteidigung zu beauftragen. Auch Anwälte aus dem Ausland werden zugelassen sein. Wenn eine Person keinen Rechtsbeistand hat, bestellt das Gericht einen. Niemand soll ohne Verteidigung vor Gericht stehen.“
„Eine Gefahr für die ganze Welt“
Ibrahim sprach die Warnung aus, dass diese IS-Dschihadisten für die ganze Welt gefährlich sind: „Die Selbstverwaltung betont, dass diese IS-Verbrecher eine Gefahr für die Region sind und dass sie nicht mehr lange dort bleiben können. Tausende von IS-Angehörigen leben in den Lagern zusammen, und die Kinder werden als neue IS-Mitglieder erzogen. Dies ist nicht nur eine Gefahr für Nord- und Ostsyrien, sondern für die ganze Welt. Wir erwarten von allen Staaten, insbesondere von den Garantiemächten, dass sie praktische Hilfe leisten und diese Appelle beherzigen.“