Sabri Ok: Das kurdische Volk hat seinen Willen gezeigt

Sabri Ok (KCK) erklärt, dass das kurdische Volk bei der Türkei-Wahl nicht wie vom Staat erhofft in die Knie gegangen ist, sondern seinen Willen gezeigt hat, indem es Folter, Tod und Verhaftung riskierte und Erdoğan in Kurdistan eine Niederlage beibrachte.

Sabri Ok, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), hat sich in einer Sondersendung bei Stêrk TV über die Isolation Abdullah Öcalans, die vergangenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei und die Perspektiven der Demokratie-Kräfte sowie die Lage in Mexmûr und Şengal geäußert. Wir veröffentlichen Teil eins des zweiteiligen Interviews.

Seit über zwei Jahren gibt es kein Lebenszeichen des kurdischen Volksrepräsentanten Abdullah Öcalan. Die Anwaltskanzlei Asrin hat das Antifolterkomitee CPT jüngst erneut aufgefordert, seiner Pflicht nachzukommen und diese gesetzeswidrige Situation zu beenden. Wie bewerten Sie die andauernde Isolation von Abdullah Öcalan?

Die Situation von Rêber Apo ist ein Dauerthema auf der Tagesordnung unserer Partei und unseres Volkes. Auch die Besatzer und die am internationalen Komplott [1] beteiligten Mächte verfolgen seine Lage und das System Imrali genau. Wir wissen, dass nichts auf der Insel planlos, ziellos oder unbewusst geschieht. Diese Kräfte verfolgen den Plan, das Imrali-System Tag für Tag zu vertiefen. Sie spielen mit der Psyche der kurdischen Gesellschaft sowie ihrer internationalen Freundinnen und Freunde. Ihre Vorgehensweise zielt darauf ab, das Band zwischen Rêber Apo und dem Volk zu zerstören. Dafür erhöhen sie permanent den Druck auf ihn. Das Konzept Imrali lässt sich nicht mit Begriffen wie Menschlichkeit, Politik oder Recht erklären. Wenn wir es unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte betrachten, sollte Rêber Apo die Chance haben, seinen Lebensabend entspannt zu verbringen. Aber wir wissen nunmal, dass die Situation auf Imrali nicht normal ist. Als Volk und als Partei haben wir natürlich das Recht, diesem Umstand gegenüber misstrauisch zu sein. Wir wissen nicht, was auf der Insel vor sich geht. Was wir aber wissen, ist, dass Rêber Apo nicht das Recht eingeräumt wird, sein Leben unter menschlichen Bedingungen zu leben. Diese Situation ist der Grund für Wut und Misstrauen.

Rêber Apo kennt die Besatzer sehr genau. Der Feind weiß, was sich mit einem einzigen Wort von ihm ändern kann. Seit dem Komplott haben Hunderte PKK-Kader ihr Leben für die physische Freiheit von Rêber Apo und aus Protest gegen den Coup durch Selbstverbrennungsaktionen beendet. Er hat fünfzig Jahre seines Lebens dem Widerstand gewidmet – niemand kann Rêber Apo wie einen gewöhnlichen Menschen behandeln. Das Handeln des türkischen Staates dreht sich einzig darum, sich an ihm zu rächen. Aus juristischer Sicht gibt es keine Grundlage für die Situation, in der sich Rêber Apo befindet. Ich habe selbst jahrelang im Gefängnis gesessen. Ein Gefangener hat das Recht, Briefe zu schreiben, seine Anwälte zu konsultieren und Besuch von seiner Familie zu erhalten. Der Staat gewährt Rêber Apo diese Rechte aber nicht. Erst vor wenigen Tagen wurden entsprechende Anträge seines Verteidigungsteams und seiner Angehörigen ohne jegliche Begründung abgewiesen. Auch wenn ich dieses Wort ungern verwenden möchte – im Horizont des Staates ist dies eine „Strafe“, die ihm auferlegt wird. Ihm wird verwehrt, Briefkontakt zu Menschen außerhalb der Mauern aufzubauen und Treffen mit seiner Familie und seinem Rechtsbeistand zu haben. Was könnte er verbrochen haben, um auf diese Weise „bestraft“ zu werden? Die Antwort auf diese Frage ist die eindeutige Tatsache, dass es auf Imrali einen ungebrochenen Widerstand gibt. Rêber Apo wehrt sich unvermindert gegen die Unterdrückung, die ihm aufgedrückt wird. Daher verschärft der Staat die Isolation. Er übt Rache an Rêber Apo.

Sowohl das kurdische Volk, seine Freunde, die revolutionären, sozialistischen Kräfte und unsere Partei müssen die Situation von Rêber Apo ständig im Blick haben, empathisch sein, sich unserer Pflichten und Verantwortung bewusst machen und den Kampf fortsetzen. Die Besatzer setzen die totale Isolation fort. Deshalb muss unsere oberste Priorität die physische Freiheit von Rêber Apo sein. Es ist unsere Pflicht, dafür mit Mut und großem Verantwortungsbewusstsein zu kämpfen. Auch in Bezug auf rechtliche Fragen, sowohl in der Türkei als auch auf internationaler Ebene, muss die Arbeit ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Das Wichtigste ist, dass wir uns unentwegt die Straßen nehmen. Das sind wir alle Rêber Apo schuldig. Wenn seine physische Freiheit unser Hauptziel ist, muss unser Volk stark, organisiert und effektiv gegen den Feind vorgehen. Unsere Bewegung muss sich besser organisieren. Wir alle müssen unsere Pflichten erfüllen und den Kampf zum Schutz der Werte, die Rêber Apo in den 50 Jahren seiner Arbeit geschaffen hat, verstärken. Wenn wir all dies tun, wird der Feind keinen Widerstand leisten können. Nur auf diese Weise können wir Rêber Apos Wünsche erfüllen. Das kann nicht nur mit Reden geschehen. Wir müssen protestieren, uns organisieren und unsere Kräfte vermehren. Deshalb wird unser Kampf von nun an organisierter und stärker fortgesetzt.

Vor kurzem fanden in der Türkei und Nordkurdistan Wahlen statt. Wie sollten die Ergebnisse der Abstimmung im Hinblick auf massive Fälle von Betrug und Manipulation betrachten werden? Welche Bedeutung haben die verschiedenen Botschaften, die während der Wahl verkündet wurden?

Die Bedingungen, unter denen diese Wahlen stattgefunden haben, sind allseits bekannt und werden dementsprechend diskutiert. Diese Diskussionen sind noch nicht abgeschlossen. Allen war darüber hinaus bewusst, dass es sich um keine gewöhnliche Wahl handelte. Eine Niederlage des faschistischen Regierungsblocks der AKP und MHP hätte unweigerlich zu einem krassen Bruch in der Mentalität des türkischen Besatzungsstaates geführt. Dem Regime war dies klar, darum hat es alle Kräfte und Mittel des Staates mobilisiert. Dies war eine wirklich historische Wahl. Aber wir müssen akzeptieren, dass – auch Rêber Apo hat das gesagt – die AKP der Staat ist. Erdoğan hat sich sogar als zweiten Atatürk bezeichnet. Atatürk hat bei der Gründung des türkischen Staates eine Rolle gespielt. Jetzt, hundert Jahre nach Gründung der Republik, sagt Erdoğan, dass er eine ähnliche Rolle spielen wird. Gleichzeitig ähnelt Erdoğans Rolle der von Hitler im Zweiten Weltkrieg. Die jüngsten Wahlen wurden unter einer Regierung mit dieser Art von Mentalität abgehalten.

Süleyman Soylu hat vor kurzem den Ausdruck „Geist des Staates“ für die Hüda Par verwendet. Er hat dies nicht näher erläutert, aber jeder weiß, was er damit sagen wollte. Es gibt in keinem Land der Welt ein Beispiel dafür, dass ein Generalstabschef bei Wahlen eine Rolle spielt. Der türkische Generalstabschef jedoch hat eindeutig Wahlkampf für die AKP/MHP betrieben, vor allem in Kurdistan. Darüber hinaus wurden religiösen Sekten und Gemeinden mobilisiert. Denn sie sind sowohl geistig als auch ideologisch mit dem Staat verbunden, der sie auch finanziert. Auch die gesamte staatliche Bürokratie wurde aufgerüstet, wie beispielsweise die Provinzgouverneure. Im Grunde handelte es sich um eine Wahl zwischen dem Staat und allen anderen. Auch der Staat war sich dessen bewusst. Er wusste, dass sich im Falle einer Niederlage der AKP und MHP ein deutlicher Bruch in ihrer Mentalität vollziehen würde, gerade im Hinblick auf das 100-jährigen Jubiläum der Republikgründung. Deshalb haben sie alles getan, um dies zu verhindern. Dazu wurde unter anderem übelste Demagogie und Rassismus betrieben, in dessen Zentrum die Kurden, Rêber Apo und die PKK waren. Die Propaganda setzte ganz auf eine Wahl zwischen dem Staat und der PKK.

Das Bündnis der Nation hatte sich nur unter großen Schwierigkeiten zusammengefunden. Die Kraft der Mitgliedsparteien, ihre Intelligenz und ihr Bündnis an sich waren nicht ausreichend. Demgegenüber haben das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte sich gegen alle Angriffe verteidigt. Deshalb kann ich dazu sagen: Erstens: Die Ergebnisse dieser Wahl sind nicht legitim. Warum? Die Abstimmung war einseitig, fand unter massivem Druck von oben statt, öffentliche Gelder wurden nur zugunsten einer Seite eingesetzt. Mit Recht und Demokratie hatte diese Wahl nur sehr wenig zu tun. Zweitens: Die AKP und Erdoğan haben verloren, vor allem bei den Präsidentschaftswahlen. Es ist die Rede von hunderttausenden syrischen Flüchtlingen, die abgestimmt haben sollen, obwohl sie gar kein Wahlrecht haben. Gleichzeitig wurden hunderttausende Stimmen der HDP-Wählerschaft für ungültig erklärt. Es ist auch interessant zu sehen, dass viele Umfragen vor der Wahl vorausgesagt hatten, dass die MHP höchstens sieben Prozent der Stimmen erhalten würde, die HDP dafür aber auf elf oder sogar zwölf Prozent kommen dürfte. Doch die MHP liegt laut offiziellem Ergebnis bei zehn Prozent und die HDP bei acht. Überall im Land, vor allem in Kurdistan, wurden an zahlreichen Orten Stimmen für die HDP der MHP zugeschrieben. Auf diese Weise haben sich die AKP und Erdoğan zu Wahlsiegern erklärt. Dabei sind sie die Verlierer. Die Rolle des kurdischen Volkes, der Demokraten und Sozialisten war ebenfalls sehr wichtig. Trotz aller Angriffe und des Drucks des Staates waren der Widerstand und die Haltung des kurdischen Volkes und das vereinte Handeln der demokratischen Kräfte sehr wichtig. Sie haben nicht nachgegeben, sie haben Folter, Tod und Verhaftung riskiert und ihren Willen durchgesetzt. Überall, vor allem in Kurdistan, haben sie dafür gesorgt, dass Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen nicht das von ihm erhoffte Ergebnis erhält.

Die HDP trat zu den Wahlen unter dem Banner der Grünen Linkspartei YSP an. Mittlerweile hat sie die Roadmap festgelegt und der Öffentlichkeit mitgeteilt, welchen Weg sie in naher Zukunft einschlagen wird. Einerseits hat die Partei einen Prozess der Selbsterneuerung eingeleitet, andererseits nehmen die Angriffe gegen die HDP von Tag zu Tag zu. Wie bewerten Sie den neuen Fahrplan der HDP und die anhaltenden Angriffe?

Zunächst einmal möchte ich betonen, dass die HDP-YSP bei dieser Wahl hart gearbeitet und ein klares Ergebnis erzielt hat. Das Ziel des AKP/MHP-Regimes und derjenigen, die gegen die Demokratisierung der Türkei und den Willen des kurdischen Volkes sind, ist es, alle zu demoralisieren. Tausende Mitglieder, höherrangige Handelnde sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der HDP sitzen im Gefängnis. Sie sind von einem Spezialkrieg betroffen, der gegen das kurdische Volk und die Demokratie-Kräfte geführt wird. Jede andere Partei in einer Situation wie dieser hätte bei Wahl nicht annähernd so viele Stimmen wie die HDP-YSP erhalten. Aber die HDP hat eine Kultur, eine Widerstandstradition; sie kämpft seit Jahrzehnten und zahlt einen hohen Blutzoll. Das kurdische Volk ist ein organisiertes und bewusstes Volk. Deshalb hat die YSP trotz aller Angriffe ein gutes Ergebnis erzielt. Natürlich wäre es möglich und notwendig gewesen, besser abzuschneiden. Aber es ist wichtig, nicht zuzulassen, dass die Besatzer aus der aktuellen Situation Freude und Moral schöpfen. Und noch wichtiger ist es, ihnen nicht zu erlauben, mit der Psychologie des kurdischen Volkes und der legitimen demokratischen Politik zu spielen. Dies muss verhindert werden.

Alle Parteien ziehen derzeit ihre Bilanz nach den Wahlen. Die AKP befindet sich in einem Zustand der Trunkenheit, aber die CHP und die IYI-Partei führen interne Diskussionen. Es ist normal, dass auch die HDP solche Diskussionen führt. Schon jetzt haben sie Hunderte von Gerichtsverfahren gegen HDP-Mitglieder vorbereitet. Der Druck auf die HDP ist groß. Dennoch wird ein Kampf geführt. Niemand sollte diese Ergebnisse als eine Niederlage verstehen. Jeder muss seine Agenda richtig definieren. Mit anderen Worten: Sie sollten sich nicht von anderen Kräften beeinflussen lassen. Sie sollten eine Agenda erstellen, die ihre Unzulänglichkeiten und Realitäten anerkennt. Wenn sie all dies überwinden, werden sie besser auf die nächste Periode vorbereitet sein. Ihre jüngsten Botschaften weisen in diese Richtung. Wir betrachten ihren Ansatz als positiv. Kritik, Selbstkritik und Diskussionen sind wichtig. Diese Diskussionen darüber, wie wir uns besser organisieren können und wie wir die bestehenden Defizite überwinden können, sind wichtig. Wichtig ist auch, wie sie ihren Fahrplan für die nächste Zeit festlegen werden. Die HDP und die YSP durchlaufen derzeit einen solchen Prozess.

Es gibt noch eine weitere wichtige Sache zu wissen: Jede Stimme, die die HDP oder die YSP erhalten hat, ist sehr wertvoll und ehrenvoll. Dieser Wert wurde auf der Grundlage von Arbeit und Blut geschaffen. Das kurdische Volk unterstützt beide Parteien, indem es viele Schwierigkeiten, Tod, Folter und Gefängnis riskiert. Sicherlich sollten wir uns dessen würdig erweisen. Viele Leute reden jetzt. Die einen sprechen davon, dass sich die Dinge nur auf Kurdistan beschränken, während die anderen sagen, dass sie zu sehr auf die Türkei ausgerichtet sind. Beide Seiten liegen falsch. Die Perspektive einer demokratischen Türkei ist die richtige. Es wurden Versuche unternommen, diese Perspektive zu verfolgen, und es wurden wichtige Schritte unternommen. Es ist normal, dass es einige Unzulänglichkeiten gibt. Wir sollten aus ihnen keine große Sache machen. Sie sollten ihre Energie und Kraft nicht in Negativität umwandeln. Sie sollten ihre Unzulänglichkeiten erkennen und auf den Prozess mit einer neuen Synergie reagieren. Alle Kritik, Selbstkritik und Diskussionen sollten unbedingt dazu dienen. Manche Menschen, die keine Verantwortung übernehmen, reden nur, um sich zu entlasten, andere reden, um selbst Thema zu sein. Aber das ist es, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen: Sie sollten ihre wirkliche Agenda festlegen, ernsthafte Diskussionen führen, sich gegenseitig Kraft geben, sich nicht ermüden und ihre Arbeit genossenschaftlich ausführen.

Es ist keine Niederlage. Das ist Politik, das war eine Wahl. Das gewünschte Ergebnis ist nicht erreicht worden, aber es gibt ein klares Ergebnis. Es gibt Gründe für dieses Ergebnis, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, und es gibt andere Gründe, die mit der HDP zusammenhängen. Diese werden bereits diskutiert. Wichtig ist, dass wir daraus Schlüsse ziehen und einen richtigen Plan entwickeln. Die größte Gefahr besteht jedoch darin, dass wir uns gegenseitig ermüden, dass wir uns unter dem Deckmantel der Kritik und Selbstkritik um eine falsche Agenda drehen, dass wir unsere Energie darauf verwenden, dass die Besatzer dies ausnutzen und Gesinnungslosigkeit erzeugen. Es gibt keinen Grund dafür, dass dies geschieht. Es ist ein gutes Ergebnis erzielt worden. Keiner hat nachgegeben und alle haben Widerstand geleistet. Deshalb möchten wir alle beglückwünschen und ihnen noch einmal viel Erfolg wünschen. Auf dieser Grundlage müssen sie die richtigen Diskussionen führen, die richtige Tagesordnung festlegen und sich gegenseitig stärken. Auf diese Weise wird das beste Ergebnis erzielt werden.


[1] Zwischenstaatliches Komplott, an dem viele Staaten und Geheimdienste beteiligt waren. Es begann mit der erzwungenen Ausreise von Abdullah Öcalan aus Syrien am 9. Oktober 1998 und mündete am 15. Februar 1999 in die völkerrechtswidrige Verschleppung des PKK-Begründers aus Kenia in die Türkei.