Die drusischen Aktivistinnen Rochelle Junior und Enas Naeem erachten das Modell der Selbstverwaltung als geeignetste Lösung für Syrien. Außerdem fordern sie die Gründung einer Frauenkonföderation, um die Rolle von Frauen in der syrischen Gesellschaft zu stärken. Besonders angesichts des drusischen Aufstands von 2023 in Suweida, bei dem die Drus:innen gegen das Assad-Regime rebellierten und eine de facto autonome Region errichteten, erhalten diese Forderungen zusätzlichen Rückenwind. Auch gegenüber der Führung der islamistischen Miliz „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS), die das Baath-Regime stürzte, wurde die Forderung nach Autonomie verkündet. In diesem Kontext drängen die Aktivistinnen darauf, dass Frauen eine zentrale Rolle in den politischen und sozialen Umwälzungen des Landes spielen sollten.
Selbstverwaltung als Schlüssel für den syrischen Frieden
Rochelle Junior betont, dass die Menschen in Suweida nach dem Aufstand 2023 ihre Organisationen gestärkt hätten, um gegen die politischen Missstände in Syrien vorzugehen. Ihr Hauptziel sei die „Erlangung der Freiheit“. Sie sagt: „Die Drus:innen haben ihre Forderungen nach politischer Veränderung in Syrien entschlossen zum Ausdruck gebracht. Während der Jahre des Assad-Regimes unterstützten die Menschen in Suweida den Aufstand und gründeten unabhängige Organisationen, die durch zahlreiche Aktivitäten die Unabhängigkeit des Volkes stärkten.“
Aufstand unter Führung der Frauen
Junior hebt die Bedeutung der Frauen im syrischen Widerstand hervor. Sie betont, dass der Aufstand in Suweida maßgeblich von Frauen mitgeführt wurde und dass diese eine Schlüsselrolle in der Organisation und Mobilisierung der Bevölkerung spielten.
Wer sind die Drus:innen?
Die Drus:innen sind eine religiöse und ethnische Minderheit, die vor allem im Nahen Osten, insbesondere in Syrien, Libanon, Israel und Jordanien, lebt. Ihre Wurzeln liegen im schiitischen Islam, doch ihre Glaubensvorstellungen unterscheiden sich stark von den traditionellen schiitischen Lehren. Der drusische Glaube entstand im 11. Jahrhundert in Ägypten, als sich eine neue religiöse Bewegung unter der Führung von al-Hakim bi-Amr Allah, einem der Fatimiden-Kalifen, formierte. Die Drus:innen entwickelten eine synkretistische Religion, welche Elemente des Islams, aber auch der Philosophie, des Gnostizismus und anderer spiritueller Traditionen vereint.
Rochelle Junior © privat
Opposition zu Assad
Sie sind eine kleine, aber politisch einflussreiche Gemeinschaft in den Ländern, in denen sie leben. In Syrien stellen sie eine bedeutende Minderheit dar, insbesondere in der Region Suweida, wo die größte drusische Gemeinschaft lebt. Während sie im Allgemeinen für ihre Loyalität zur jeweiligen Regierung bekannt sind, haben sie sich immer wieder gegen ausländische oder diktatorische Herrschaft aufgelehnt, wenn ihre kulturellen und religiösen Freiheiten bedroht waren. In den letzten Jahren haben die Drus:innen, insbesondere in Suweida, zunehmend ihre Forderungen nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung lautstark artikuliert, wie der Aufstand von 2023 zeigt. Trotz der Herausforderungen, die ihre Minderheitenposition mit sich bringt, spielen die Drus:innen eine bedeutende Rolle in der politischen und sozialen Landschaft des syrischen Konflikts.
Die Frauenfrage: Unterrepräsentation und Diskriminierung
Ein zentrales Anliegen von Rochelle Junior ist die mangelnde Vertretung von Frauen in politischen Entscheidungsprozessen. Mit Verweis auf die „Siegeskonferenz“ vom 29. Januar kritisiert sie die Abwesenheit von Frauen in der politischen Diskussion. „Die Vertretung des Volkes, insbesondere der Frauen, wird bei den Entscheidungen nicht berücksichtigt. Dies wirft für viele Menschen Fragen auf. Die Abwesenheit von Frauen zeigt, dass die Rechte der Frauen in Zukunft gefährdet sein werden“, erklärte sie.
„Es ist eine Schande, dass ein Mörder an der Konferenz teilnahm“
Zusätzlich äußert sie ihre Besorgnis über die Teilnahme eines ebenso prominenten wie umstrittenen Akteurs an der Konferenz: „Es ist eine Schande, dass der Mörder von Hevrîn Xelef an der Konferenz teilnahm. Auf Plattformen wie dieser sollten ernsthafte und verantwortungsbewusste Personen anwesend sein, die die Menschenwürde wahren“, sagt Junior und verurteilt damit die Teilnahme des Täters an der Veranstaltung. Sie fordert eine klare Ablehnung von Verstößen gegen Menschenrechte und betonte, dass diese nicht akzeptiert werden dürften.
Forderung nach Beteiligung
Die Rolle der Frauen im Aufstand von Suweida heben Junior und Naeem immer wieder hervor. „Die Mehrheit der Teilnehmer:innen an den Aufständen in Suweida waren Frauen“, sagt Junior. „Sie werden ihren Kampf fortsetzen, um sicherzustellen, dass Frauen aktiv in Entscheidungsprozesse einbezogen werden.“ Die Aktivistin betont, dass der Widerstand und die Organisation von Frauen in Suweida wesentlich zur Gründung freier Institutionen beigetragen haben: „Drusische Frauen unterstützten die Frauen in Suweida und standen an ihrer Seite, um freie Institutionen zu gründen und eine echte Veränderung herbeizuführen.“
Forderung nach einer Frauenkonföderation
Ein weiteres zentrales Anliegen von Junior und Naeem ist die Schaffung einer Frauenkonföderation, die eine stärkere Vernetzung und Vertretung der Frauen im gesamten syrischen Raum ermöglichen soll. Junior erklärt: „Es ist notwendig, dass die Frauen in Syrien ihre Stimmen vereinen. Wir fordern die Gründung von Jineolojî-Forschungszentren in jeder syrischen Stadt, damit Frauen respektiert und ihre Rechte gestärkt werden.“ Die Gründung einer solchen Konföderation soll die Rolle der Frauen in der syrischen Gesellschaft festigen und ihre Beteiligung an politischen und sozialen Entscheidungsprozessen sicherstellen.
Ein dezentrales System für ein demokratisches Syrien
Enas Naeem, welche die Ansichten von Junior unterstützt, erinnert daran, dass die Menschen in Suweida sich nicht nur gegen das Assad-Regime, sondern auch gegen das zentrale Machtmodell von HTS auflehnten. „Wir glauben an ein dezentralisiertes System“, sagt sie, „es ist das einzige Modell, das die Rechte aller Syrer:innen schützen kann, und wir wollen, dass alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Geschlecht – die Möglichkeit haben, ihre Rechte auszuüben.“
Die Forderung nach einem dezentralisierten politischen System, das auf Selbstverwaltung basiert, wird von Junior und Naeem als eine Lösung für die politische Zukunft Syriens dargestellt. Naeem erklärt: „Das Modell der Selbstverwaltung hat sich in Nord- und Ostsyrien als die realistischste Lösung für die politische, soziale und kulturelle Einheit des Landes erwiesen.“
Fazit: Eine gemeinsame Vision für ein neues Syrien
Die Drus:innen und insbesondere die Frauen von Suweida kämpfen weiterhin für eine selbstbestimmte Zukunft, in der ihre Rechte und ihre Stimme berücksichtigt werden. Rochelle Junior und Enas Naeem setzen sich für ein Syrien ein, in dem eine dezentralisierte Selbstverwaltung die Grundlage für politische Stabilität und soziale Gerechtigkeit bildet. Durch die Stärkung der Frauen und die Schaffung einer Frauenkonföderation möchten sie nicht nur das gesellschaftliche, sondern auch das politische Gleichgewicht im Land verändern.
Titelbild: Proteste in Suweida im Sommer 2023 © Suwayda24