„Der Wind aus Efrîn gibt mir Luft zum Atmen“

Selva Ehmed Şêxo lebt seit ihrer Vertreibung durch die türkischen Invasionstruppen in einem Zelt in Şehba und wartet auf den Tag ihrer Rückkehr nach Efrîn. Die 65-Jährige unterstützt die PKK seit vierzig Jahren.

Fluchtgeschichten aus Nordsyrien

In der nordsyrischen Region Şehba leben Tausende Binnenflüchtlinge aus Efrîn. Selva Ehmed Şêxo stammt aus dem Dorf Quta in Efrîn-Bilbilê und ist in Camp Berxwedan (kurdisch für „Widerstand) untergekommen, einem der von der Selbstverwaltung Nordostsyriens errichteten Auffanglager für die vom türkischen Staat Vertriebenen. Die 64-Jährige ist im Rat des Lagers aktiv und besucht täglich die Bewohner:innen, um vor allem Frauen und Jugendliche zu unterstützen.

Selva hat die PKK 1985 kennengelernt: „Damals wohnten wir in Aleppo. Eines Tages standen junge Frauen und Männer vor unserer Tür. Bei uns ist Gastfreundschaft sehr wichtig. Wer an unsere Tür klopft, wird nicht abgewiesen. Ich habe sie hereingebeten. Sie begannen zu erklären, wer sie waren. Sie sprachen von Rêber Apo [Abdullah Öcalan]. Und so wurde unser Haus nach und nach zu einem Parteihaus. Es fanden Versammlungen statt, und unsere Tür stand auch in schwierigen Zeiten offen. Zur Erntezeit ging ich mit meinen Kindern von Dorf zu Dorf, mein Mann machte etwas anderes. Mit unserer Arbeit sammelten wir materielle Hilfe.“


2011 wurde Aleppo von islamistischen Banden überfallen, Selvas Sohn Hemze Şêxo (Baran Hawar) kam bei der Verteidigung der Stadt ums Leben. Die Familie kehrte zurück in ihr Dorf in Efrîn: „Wir hatten Olivenbäume und es ging uns gut. Wir hatten alles, was wir brauchten. Alles lief gut, bis 2018. Die türkische Invasion hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Wir waren in Bilbilê. Zuerst wurde Raco angegriffen, der Gipfel Kevrê Ker wurde bombardiert. Dann brach die Hölle los, Fenster und Türen wurden zerstört. Wir flüchteten nach Qirigol und dann weiter ins Dorf Kurtkulaq bei Şera. Es war dunkel, wir saßen mit den kleinen Kindern auf einem Anhänger, der von einem Traktor gezogen wurde. Wir hatten keinen Ofen und die Granaten flogen über unsere Köpfe hinweg. Mein Herz raste, der Boden zitterte. Wir suchten Schutz in einem dunklen Keller, er wurde als Tierstall genutzt. Dort blieben wir drei Nächte, aber es war auch dort nicht sicher. Wir fuhren weiter nach Efrîn, Verwandte von uns hatten im Stadtteil Eşrefiyê eine Werkstatt, dort kamen wir unter. Wir wollten nicht gehen und unseren Besitz zurücklassen, wir hatten ja nichts verbrochen. Die Flugzeuge warfen Bomben ab, in Qirigol kamen 17 Verwandte von uns ums Leben. Es war ein Blutbad.

Am 58. Tag mussten wir Efrîn verlassen. Ich bin nach kurzer Zeit im Berxweden-Camp untergekommen. Einige Tage wussten wir nicht, was wir tun sollen. Wir brauchten einen Ort, an dem wir bleiben konnten. Glücklicherweise wurden die Camps schnell errichtet. Als ich hierher kam, war noch niemand da. Es war keine leichte Zeit. Die jungen Menschen haben ununterbrochen gearbeitet, damit man hier leben kann.“

Der Wind aus Efrîn weht hierher

Selva könnte wieder nach Aleppo ziehen, aber sie will das Camp trotz ihres fortgeschrittenen Alters und der schweren Lebensbedingungen nicht verlassen: „Ich habe eine Unterkunft in Aleppo, aber ich will hier nicht weg. Ich bin 64 Jahre alt, wenn ich keine Widerstand leiste, wie sollen es dann die jungen Menschen tun? Vielleicht kann ich nicht viel ausrichten hier im Lager, aber ich sammele die jungen Leute um mich herum und gebe ihnen Kraft und Moral. Außerdem weht der Wind aus Efrîn hierher. Efrîns Geruch gibt mir Luft zum Atmen. Ich bin nicht mehr jung und das Leben im Camp ist auch schwer. Es ist nicht einfach, im Zelt zu leben. Der Sommer ist kein Sommer und der Winter kein Winter. Ich lebe allein in meinem Zelt und habe niemanden in der Nähe, aber ich werde hier in Camp Berxwedan auf den Tag unserer Rückkehr nach Efrîn warten.“