Nach scharfer Kritik an den Zuständen in der Türkei hat die Justiz rechtliche Schritte gegen den Vorsitzenden des türkischen Wirtschaftsverbands TÜSIAD eingeleitet. Orhan Turan wird versuchte Einflussnahme auf Gerichtsverfahren und die öffentliche Verbreitung falscher Informationen vorgeworfen, berichteten türkische Medien am Mittwoch. Dieselben Anschuldigen werden auch gegen den Präsidenten des Beirats des Verbands, Ömer Aras, erhoben. Gegen ihn wurden bereits vor Tagen Ermittlungen eingeleitet.
Turan und Aras bemängelten kürzlich auf einer Beiratssitzung des Verbands das Justizsystem und das Vorgehen gegen kritische Stimmen im Land. Die Unternehmer äußerten sich besorgt über das Demokratiedefizit in der Türkei und sprachen ein breites Spektrum an Themen an, etwa die Absetzung demokratisch gewählter Bürgermeister:innen und die Einsetzung von Zwangsverwaltern an ihrer Stelle sowie offenkundig politisch motiviertes Vorgehen, etwa gegen Oppositionelle wie den Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu (CHP) oder die unabhängige Presse.
Die TÜSIAD-Verantwortlichen kritisierten auch die Zinspolitik von Staatspräsident Erdoğan, der Fachleute nachsagen, sie sei Ursache für die Wirtschaftskrise im Land. Zudem beklagten sie sich mit Blick auf Katastrophen wie einen Hotelbrand mit über 70 Toten und einen Erdrutsch in einer Goldmine, der ebenfalls Opfer forderte, über staatliche Gleichgültigkeit und Inkompetenz bei der Überwachung und Regulierung von Vorschriften sowie ausbleibende Konsequenzen für Verantwortliche. Die Hauptursache für Todesfälle in Vorfällen wie diesen sei ein Systemversagen.
Um dagegen zu steuern, brauche es Mechanismen der Selbstkorrektur, forderten Turan und Aras. Sie betonten, dass der Erfolg eines Staates wesentlich von rechtsstaatlichen Strukturen abhängig sei. Inkompetenz in hohen Positionen, Korruption, Unterdrückung und das Fehlen von Demokratie seien immer wieder Ursachen für wirtschaftlichen Niedergang, für Armut weiter Teile der Bevölkerung und für die Bildung von egoistischen Eliten.
Jahrzehntelanger Streit mit TÜSIAD
Die Berichte über die Ermittlungen gegen Turan folgen wenige Stunden nach einer Brandrede des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan gegen den Verband. Dieser warf dem Unternehmer zum Beispiel vor, sich an der Unabhängigkeit der Türkei zu stören. TÜSIAD selbst bezeichnete Erdoğan als „überheblich, faschistisch und grobklotzig“. Der Verband positioniere sich „schon immer an der Seite von Putschisten, Junta-Mitgliedern, Imperialisten und ihrer Einflussagenten“, behauptete der AKP-Chef in gewohnt verunglimpfender Manier. Diese Tatsache habe sich „tief in das gesellschaftliche Gedächtnis eingebrannt“. Der Konflikt Erdoğans mit dem um Demokratisierung bemühten TÜSIAD reicht Jahrzehnte zurück in die Zeit, als der heutige Präsident noch Oberbürgermeister von Istanbul war.
Foto Ömer Aras © ANKA