Ein Antrag der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), im türkischen Parlament eine Untersuchung internationaler Friedensprozesse einzuleiten, wurde am Dienstag mit den Stimmen der regierenden AKP und ihres Koalitionspartners MHP im Plenum abgelehnt. Der Antrag zielte darauf ab, vergleichbare Konfliktlösungsmodelle – etwa aus Nordirland, Südafrika, Kolumbien oder Indonesien – systematisch aufzuarbeiten und auf ihre Übertragbarkeit für die Türkei zu prüfen.
Frieden braucht Gestaltung
In einer Rede stellte der DEM-Abgeordnete Serhat Eren klar, dass der Begriff Frieden nicht bloß als Ausdruck guter Absichten verstanden werden dürfe, sondern rechtliche, politische und gesellschaftliche Verankerung brauche. Mit Blick auf die gestern angekündigte Selbstauflösung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die von ihrem Begründer Abdullah Öcalan formulierte Friedensinitiative vom 27. Februar sprach Eren von einem „historischen Wendepunkt“, den es nicht zu verpassen gelte.
„Millionen Menschen wurden entwurzelt, ganze Landstriche entvölkert, das Vertrauen zwischen den Gemeinschaften zerstört. Doch heute stehen wir an einer Schwelle: Die Phase des bewaffneten Kampfes ist beendet – was fehlt, ist eine institutionelle Antwort“, so Eren.
Mit Verweis auf Friedensprozesse in Nordirland (Karfreitagsabkommen), Südafrika (Wahrheits- und Versöhnungskommissionen), Kolumbien und Indonesien betonte der Politiker aus dem Wahlkreis Amed (tr. Diyarbakır), dass Frieden nicht durch Absichtserklärungen, sondern durch strukturelle Reformen, öffentliche Aufarbeitung und den Einbezug aller Akteur:innen dauerhaft werden könne.
Frieden entsteht im Gewissen der Gesellschaft
„Frieden kann nur dann dauerhaft sein, wenn die Forderungen der Bevölkerung gehört, ihre kollektive Erinnerung geheilt und ihre Identität anerkannt wird“, sagte Eren. „Denn Frieden entsteht nicht am Verhandlungstisch, sondern einzig im Gewissen und im Herzen der Völker – und die Menschen in der Türkei wollen heute Frieden.
Gerade deshalb muss dieses Parlament zum Zentrum rechtlicher und verfassungsmäßiger Reformen werden, die auf Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit der Völker basieren. Es ist die grundlegende Verantwortung aller, einen konstruktiven und verantwortungsbewussten Ansatz zu verfolgen, um dieses Ziel zu erreichen. Dieser Antrag ist ein erster wichtiger Schritt, um aus internationalen Erfahrungen zu lernen und diese für die Zukunft der Türkei fruchtbar zu machen.“
Die DEM reiche den Antrag „im Namen von Millionen ein, die in Diyarbakır, Hakkari, Van, Edirne, Mersin und Istanbul“ ein gleichberechtigtes, würdevolles, gerechtes und freies Leben forderten, ergänzte Eren. „Lasst uns gemeinsam aus diesen Erfahrungen lernen. Für Gerechtigkeit, für Frieden, für Freiheit, für ein gleiches Leben: Lasst uns gemeinsam die Friedenserfahrungen dieser Welt studieren, gemeinsam den Frieden aufbauen, über ihn sprechen – und ihn wachsen lassen“, erklärte der Abgeordnete.
Unterstützung aus Teilen der Opposition
Auch Kani Torun, Abgeordneter der oppositionellen Zukunftspartei, sprach sich im Hinblick auf den Erfolg eines kurdisch-türkischen Friedensprozesses für eine begleitende Kommission zur Überwachung der Entwaffnung der PKK aus. Mit Blick auf seine Erfahrungen in Großbritannien im Kontext des Nordirlandkonflikts warnte er vor möglichen Sabotagen des Prozesses und betonte die Notwendigkeit juristischer Absicherungen: „Lassen wir uns nicht aufhalten. Schaffen wir die rechtlichen Grundlagen für einen demokratischen, freien Raum, in dem keine Seite mehr zu den Waffen greifen muss.“
Breite Beteiligung als Voraussetzung
Für die Republikanische Volkspartei (CHP) forderte der Abgeordnete Tekin Bingöl eine inklusive Ausgestaltung des politischen Dialogs. Ohne die Einbindung aller gesellschaftlichen Gruppen sei ein dauerhafter Frieden nicht möglich. Er hob insbesondere die Freilassung politischer Gefangener als notwendige Voraussetzung für Vertrauen und Gleichberechtigung im Prozess hervor. „Ein echter Friedensprozess kann nur gelingen, wenn keine Stimme ausgeschlossen wird“, so Bingöl.
Opposition: Verpasste Gelegenheit
Die Ablehnung des Antrags durch die Regierungskoalition aus AKP und MHP warf in den Reihen der Oppositionsparteien die Frage auf, inwiefern die politische Führung gewillt ist, den durch die PKK eingeleiteten Strategiewechsel als ernsthafte Verhandlungsgrundlage aufzugreifen. Serhat Eren wertete das Votum als verpasste Gelegenheit, institutionelle Verantwortung für eine friedliche Neugestaltung zu übernehmen. In der ursprünglichen Begründung des DEM-Antrags hieß es, Ziel sei es, „aus den Erfahrungen anderer Länder zu lernen, um sie in einen demokratischen Zukunftsentwurf für die Türkei zu überführen“. Dabei ging es nicht nur um eine Niederlegung der Waffen, sondern um die Grundlegung einer auf Gleichheit, Gerechtigkeit und kollektiver Erinnerung basierenden Gesellschaftsordnung.