Der Schweizer Politiker Prof. Dr. Franco Cavalli nennt die Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) ein außergewöhnliches Beispiel und ihr System die einzige Hoffnung auf einen friedlichen und demokratischen Nahen Osten. Mit Sorge blickt er auf die Bestrebungen des türkischen Präsidenten Erdoğan, die er als „genozidale Absichten“ bezeichnete: „Um Rojava zu schützen, ist ein noch größerer Einsatz erforderlich als bisher“, so Cavalli.
Die Diskussionen um ein neues Syrien, das unter der Kontrolle von HTS (Hayat Tahrir al-Scham) steht, dauern seit dem Sturz des Baath-Regimes am 8. Dezember an. Der türkische Staat versucht, seinen Einfluss auf die Übergangsregierung in Damaskus gegen die Kurd:innen zu nutzen und setzt seine von der SNA kontrollierten Milizen gegen Nord- und Ostsyrien ein. Kämpfer:innen der QSD (Demokratische Kräfte Syriens) halten seit über einem Monat mit der Verteidigung von Tişrîn und Qereqozax den Plänen der Türkei stand. Der Schweizer Wissenschaftler, Menschenrechtler und Politiker Prof. Dr. Franco Cavalli äußerte sich in einem Interview mit ANF zu den jüngsten Entwicklungen in Syrien.
„Ich glaube nicht an die gemäßigte Sprache der Dschihadisten“
Prof. Cavalli erinnerte daran, dass die neue Regierung in Damaskus in engem Kontakt zur Türkei stehe und bis vor einem Monat noch als terroristisch, ähnlich wie der selbsternannte IS, angesehen wurde: „Heute verwenden diese Gruppen eine gemäßigte Sprache, aber ich glaube ihnen nicht. Das Gefährlichste ist, dass dies den Einfluss der islamistischen Gruppen, die dem „IS“ nahestehen, erheblich verstärkt. Zudem stärkt diese Entwicklung die Macht von Erdoğan, der immer wieder betont hat, dass alles, was in Rojava aufgebaut wurde, zerstört werden muss.
„Erdoğan könnte einen Völkermord an den Kurd:innen anstreben“
Ich glaube nicht, dass dieses neue Regime demokratisch sein wird oder Minderheiten- und Frauenrechte schützen wird. Deshalb bin ich sehr besorgt. In den letzten zehn Jahren war ich nie so beunruhigt wie jetzt. Die Situation ist besonders gefährlich, weil Erdoğan bereits früher seine schrecklichen Absichten klar geäußert hat. Er könnte einen Völkermord an den Kurd:innen anstreben, ähnlich dem, was die Türkei vor einem Jahrhundert mit den Armenier:innen getan haben. Das macht mir wirklich große Sorgen.
„Der Westen stellt seine eigenen Interessen an erste Stelle“
Der Westen scheint zu vergessen, wer das Regime in Syrien eigentlich ist, und tut so, als ob alles in Ordnung wäre. Die Priorität des Westens sind seine eigenen geopolitischen Vorteile.
„Rojava ist die einzige wahre Demokratie im Nahen Osten“
Rojava ist die einzige echte Demokratie im Nahen Osten. Dort haben alle – Männer, Frauen, Minderheiten – gleiche Rechte. Ich halte das Rojava-Modell für ein außergewöhnliches Beispiel für alle. Die Kurd:innen haben unter schwierigsten Bedingungen eine demokratische Struktur geschaffen, die weltweit als Vorbild dienen kann. Alle demokratischen Kräfte der Welt müssen mehr tun, um dieses demokratische Experiment zu bewahren. Langfristig ist das Rojava-Modell die einzige Hoffnung auf einen friedlichen und demokratischen Nahen Osten. Es gibt kein anderes Beispiel. Angesichts der Bemühungen rechter Terrorgruppen, dieses Modell zu zerstören, muss die demokratische und fortschrittliche Welt einen viel größeren Einsatz leisten, um Rojava zu schützen.“
Wer ist Prof. Dr. Franco Cavalli?
Franco Cavalli ist ein renommierter Schweizer Onkologe und Politiker. 1942 in der Schweiz geboren, ist Cavalli vor allem für seine bahnbrechenden Arbeiten in der Krebsforschung und -behandlung bekannt. Aufgrund seiner Expertise und seiner internationalen Beiträge im Bereich der Onkologie ist er weltweit anerkannt. Neben seiner medizinischen Karriere war er auch politisch aktiv. Als Mitglied der Sozialistischen Partei der Schweiz war Cavalli jahrelang tätig, unter anderem als Abgeordneter im Parlament. Er bekleidete Führungspositionen in diversen internationalen Organisationen wie der Union for International Cancer Control (UICC) und der European Society for Medical Oncology (ESMO). Für seine Verdienste wurde er mit zahlreichen prestigeträchtigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem von der Amerikanischen Krebsgesellschaft. Prof. Dr. Cavalli gilt als einer der wenigen, die eine erfolgreiche Balance zwischen Medizin, Politik und gesellschaftlichem Engagement gefunden haben.