Was passierte gestern in Kirkuk und wer ist dafür verantwortlich?

Eine Analyse des Narichtenportals The Region zu dem Fall von Kirkuk (Kerkûk)

Am Montag nahm das irakische Militär in nur einem Tag die Stadt Kirkuk von kurdischen Truppen ein. So sah die Szene aus.

Ein Sprecher des irakischen „Counter Terrorism Service“, eine Nichtregierungsorganisation, die von den Vereinigten Staaten nach ihrer Invasion gebildet wurde, steht neben Mohandes, dem Kommandeur der Hashd al-Shaabi Milizen, die in beträchtlicher Anzahl aus iranischen Kämpfern besteht. Glücklich bei ihnen ist auch Hadi Al-Amiri, ein Iraker, der die Badr-Organisation leitet. Er ist bekannt für seine Bewunderung für die islamischen Revolutionsgarden des Irans, die ihn jahrzehntelang trainierten, als er in ihrem Auftrag gegen den irakischen Ex-Diktator Saddam kämpfte.

Sie feiern, begeistert von Jubel, als die kurdische Flagge in Kirkuks Provinzrat gesenkt wird. Die irakische Flagge wird aufgezogen, der Pöbel wird wild.

Im Hintergrund lobt eine riesige Menschenmenge Gott. Für sie sind die irakischen Militärs und die von Iran unterstützten Milizen Vorboten der Errettung.

Ein kurdischer Reporter ist traumatisiert, als er sieht, wie zehn Peshmerga-Soldaten von den Hashd al-Shaabi Milizen enthauptet und auf einen Lastwagen gestapelt werden. Tausende von Kurden fliehen nach Erbil, in der Hoffnung, dass sie dort Sicherheit finden, und sorgen sich um das, was von nun an auf sie zukommen wird.

Die Menschen sind verwirrt, als sie plötzlich zwei Kräfte miteinander konfrontiert sehen, die doch erst vor kurzem im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) gemeinsam kämpften. Treffen die alten Partner und neuen Gegner aufeinander, schießen amerikanische Waffen auf andere amerikanische Waffen. Die US-Streitkräfte – selbst anwesend, um die Situation zu „überwachen“, weigern sich, Partei zu ergreifen. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die so viele Guerillakräfte geschickt hat, wie sie nur konnte, kann nur einen Frontabschnitt in Kirkuk übernehmen. Die Türkei bricht ihr Schweigen und jubelt Bagdad an, bevor sie verspricht, später auch auf das Schlachtfeld zu folgen, um gegen die PKK vorzugehen.

Kirkuk ist gefallen. Und niemand weiß, wer schuld ist.

Sollte man sich dafür entscheiden, dieses Ereignis nicht isoliert zu betrachten, müssen wir zum 25. September zurückkehren, als die Kurden für ein unverbindliches Unabhängigkeitsreferendum stimmten, dass einige Monate zuvor von Barzani einberufen worden war. Über 90% stimmten für Ja und die Regierungen der Welt reagierten entweder gleichgültig oder verachtungsvoll. Der britische Außenminister Boris Johnson argumentierte, dass das Referendum „von der dringenden Priorität des Kampfes gegen den IS ablenken“ würde. Das Weiße Haus veröffentlichte eine fast ähnliche Aussage, und selbst der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, glaubte, dass „der Kampf gegen den IS absoluten Vorrang haben müsse“. Viele werteten diese Statements als absolute moralische Verwerfung. Denn waren die Kurden doch als Partner im Kampf gegen den IS auf dem Schlachtfeld gut genug, werden ihre berechtigten politischen Forderungen schlichtweg niedergeschmettert.

Inzwischen erklärte Bagdad, dass es genau das tun würde, was es gestern getan hat. Al-Abadi sagte der Associated Press, dass er militärisch eingreifen würde, und Nori al-Maliki sagte, dass er im Irak nicht die „Errichtung eines zweiten Israels“ zulassen würde.

In diesem Zusammenhang hat die internationale Gemeinschaft die Kurden aufgegeben, genau wie damals, als die Briten 1921 das erste Königreich Kurdistans bombardierten, genau wie damals, als der Vertrag von Sevres 1923 zugunsten der Gründung der Türkei aufgelöst wurde, als die Kurden im Berg Ararat im Jahr 1927 aufgegeben wurden und Qazi Muhammad 1947 wegen der Erklärung der Republik Mahabad gehängt wurde.

Der heilige Vers ist immer derselbe: “Oh Kurdistan, wirst du es wagen, das Recht auf Selbstbestimmung zu fordern, wirst du kollektiv bestraft.”

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die kurdische Führung von ihren Sünden befreit werden sollte.

Es ist eindeutig, dass der „Verrat einiger Beamter“, wie Hemen Hawarmi vom Parteikomitee der KDP (Demokratische Partei Kurdistans) es ausdrückte, im Falle der Eroberung Kirkuks durch die Hashd al-Shaabi Milizen eine Rolle spielte.

Man kann sich das fast absurde Treffen vorstellen, das zwischen Bagdad und der kurdischen Führung in Kirkuk stattfand. Mit anderen Worten, ein Treffen zwischen der YNK (Patriotische Union Kurdistans) und der YNK, vertreten durch ihren Mitbegründer Fuad Masum, der zufällig der Präsident des Irak ist.

Weil die YNK einen Fuß in der kurdischen Regionalregierung und eine andere in Bagdad hatte, als die Schlacht von Kirkuk in den Fokus geriet, fand sie sich in einer peinlichen und völlig absurden Situation wieder. Die Folgen des Versuchs, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, als das irakische Militär auf Kirkuk vorrückte, waren fatal. Dass die in Kirkuk eingedrungenen Kräfte vom Iran unterstützt wurden, machte die Sache für die YNK auch nicht besser. Denn auch sie wird seit Jahren aus Teheran unterstützt.

Die KDP versuchte natürlich diese schwierige Lage der YNK auszunutzen und sie verbal anzugreifen. Allerdings täuscht das über die Tatsache nicht hinweg, dass die KDP selbst über eine lange und opportunistische Geschichte der Zusammenarbeit mit Bagdad verfügt.

Als es zu Zusammenstößen zwischen PKK-Guerillas, einigen desertierten Peshmerga-Truppen und einigen wenigen Bürgern kam, die sich gemeinsam gegen die iranischen Angreifer stellten, war die YNK-Peshmerga nirgends zu finden. Viele Kurden fühlten sich verraten und waren wütend. Es erinnerte an die Zeit, als die Peshmerga der KDP die Êzîden in Shengal schutzlos dem IS überließ. Auch damals griff die PKK ein, um die Menschen vor noch größeren Gräueltaten zu retten.

Nach der Resignation in Kirkuk, trat die Schuldfrage auf. Die YNK behauptete, dass die KDP nicht einsehe, dass man in Kirkuk von einem mächtigeren und besser ausgerüsteten Militär überrannt worden wäre. Die KDP erklärte hingegen, die YNK habe verräterisch gehandelt.

Aber auch die KDP sind teilweise für die jüngsten Ereignisse verantwortlich. Wenn sie nicht so darauf besessen wären, ihre eigene Macht zu erhalten, hätten die Dinge möglicherweise anders ausgehen können.

Man sieht heute deutlicher, dass es beim Referendum auch um einen innerkurdischen Machtkampf ging. Im Jahr 2015 erreichte Barzani das Ende seines Regierungsmandats, blieb aber im Namen des Kampfes gegen den IS an der Macht. Die Proteste wuchsen. Der KDP hingegen fiel nichts Besseres ein, als dem Präsidenten des kurdischen Parlaments, der zugleich eine wichtige Oppositionsfigur ist,  permanent die Einreise nach Erbil (also zum Ort des Parlaments) zu verweigern. Die Legislative wurde seitdem für geschlossen erklärt, und da Barzanis Herrschaft unrechtmäßig war, musste er einen Weg finden, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten.

Wenn er derjenige sein könnte, der nach der Unabhängigkeit ruft, würde seine Popularität wieder steigen. So argumentierte er, und so drängte er auf ein unverbindliches Referendum, das nur symbolische Natur sein könnte und die Hoffnungen von Millionen von Kurden aufblühen ließ.

Die Opposition war nun in einer schwierigen Position. Denn jetzt gegen die KDP zu sein, hieß auch, sich gegen Kurdistan zu stellen. Als das Parlament reaktiviert wurde, gaben sowohl die YNK als auch die Opposition widerwillig ihren Segen für das Referendum. Doch sie befürchteten auch, dass das Schlimmste ihnen noch bevorstand.

Und es scheint, dass die meisten kurdischen Eliten einen wichtigen Punkt vergessen haben. Die kurdische Forderung nach Selbstbestimmung ist weit größer als jeder kurdische Führer. Barzani nahm sich einem Thema an, welches er nicht bedienen konnte. Nun versucht er über die Schuldfrage sich aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Dann ist da noch Kirkuk. Sowohl Barzani als auch Abadi denken zuerst an das Öl, wenn sie den Namen der Stadt hören. Kirkuk wurde genau aus demselben Grund von Saddam mit Gewalt arabisiert. Jetzt ist es eine gemischte Stadt mit beträchtlicher kurdischer Bevölkerung, sunnitischen Arabern, Turkmenen und Christen. Aus diesem Grund ist die Stadt umstritten.

Der nach der Intervention erlassene Artikel 140 der Verfassung versprach, dass der Streit zwischen der kurdischen Regionalregierung in Erbil und Bagdad bis 2007 beigelegt werden sollte. Bagdad ließ diesen Entscheidungsprozess (aus Gründen des Öls) ins Stocken geraten und Barzani erklärte, dass das Unabhängigkeitsreferendum in Kurdistan die Angelegenheit ein für alle Mal lösen würde.

Zusammengefasst kann man sagen, dass selbst wenn die Absichten von Barzani vielleicht nicht die richtigsten gewesen sind, er mit Kirkuk Recht hatte. Es war sehr wahrscheinlich, dass es nie wirklich einen „richtigen Zeitpunkt“ für ein Unabhängigkeits-Referendum geben würde. Und nachdem die Kurden mehr als 100 Jahren  ihr Recht auf Selbstbestimmung eingefordert haben, stellt sich zu Recht die Frage, welche Legitimation es denn noch gibt, sie weiter hinzuhalten?

Doch Bagdad erkannte nicht nur dieses Recht nicht an, Bagdad forderte Blut. Und die Welt schaute weg. Der KDP ging es nur um den Machterhalt. Und die YNK verriet ihre eigenen Leute.

Wer ist schuld an all dem? Die internationale Gemeinschaft, Bagdad, und die kurdische Führung im Irak.

Wer ist nicht schuld? Alle Völker von Kirkuk. Also weder diejenigen, die beim Referendum am 25. September mit JA, noch diejenigen, die mit NEIN gestimmt haben.

 

Im Original ist die Analyse am 16.10.2017 unter dem Titel “The Region’s take: What happened in Kirkuk and who is to blame?” beim Nachrichtenportal The Region erschienen.