Nach neuen Vergiftungsfällen an Mädchenschulen in Iran und Rojhilat haben in einer Reihe von Städten Angehörige, Bildungskräfte und Bazaris gegen die Giftanschläge auf Schülerinnen protestiert und Aufklärung gefordert. Streiks, Demonstrationen und Unterrichtsboykott gab es unter anderem in Seqiz, Mahabad, Sine, Ûrmiye und Kirmaşan. In Online-Netzwerken war zu sehen, wie Einsatzkräfte des Regimes teils mit Pfefferspray gegen die Demonstrierenden vorgingen.
Die ersten Vergiftungsfälle an Schulen wurden bereits im November gemeldet – fast ausschließlich an Einrichtungen für Mädchen, an denen Schülerinnen im Zuge der „Jin, Jiyan, Azadî“-Revolution besonders vehement gegen das Regime protestiert hatten. Ganze Busse mit vergifteten Mädchen hielten vor den Notaufnahmen, insgesamt waren Schulen in 28 der 31 Provinzen des Landes betroffen. Sie klagten über Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Atemnot bis hin zur Ohnmacht, nachdem sie einen seltsamen Geruch von faulen Eiern oder Mandarinen. wahrgenommen hatten.
Bis zu 7.000 Mädchen seien bei mehr als 200 Anschlägen vergiftet worden, berichtet die Organisation Human Rights Activists News Agency (HRANA) mit Sitz in den USA. Mehr als 13.000 Verdachtsfälle verzeichneten die Behörden offiziell. Beobachter gehen von einer zusätzlichen Dunkelziffer aus. Viele Eltern nahmen ihre Kinder vor Beginn der Ferien aus Sorge zunächst aus der Schule. Mit Beginn der zweiwöchigen Neujahrsferien Nouruz, die am 21. März begonnen hatten, waren aus Krankenhäusern dann kaum noch Fälle gemeldet worden. Vergangene Woche wurden jedoch direkt mit Schulbeginn wieder Dutzende Fälle bekannt.
In Seqiz, dem Heimatort von Jina Mahsa Amini, an deren gewaltsamen Tod in Gewahrsam der iranischen Polizei sich im vergangenen September die „Jin, Jiyan, Azadî“-Proteste entzündet hatten, wurden allein am Ostersonntag mehr als 100 Schülerinnen vergiftet, berichtet HRANA. Zwei Dutzend Schülerinnen sollen in kritischem Zustand sein. In Seqiz läuft seit heute ein Generalstreik, an dem sich neben Bildungskräften auch die Bazaris, wie die Händlerzunft genannt wird, beteiligen. Zahlreiche protestierende Eltern seien festgenommen worden, meldet die Menschenrechtsgruppe. Die genaue Anzahl ist unklar.
Die Behörden des iranischen Regimes hatten Anfang März die Festnahme mehrerer „Täter“ verkündet, ohne allerdings weitere Angaben zu ihrer Identität, den Umständen der Festnahmen und ihrer mutmaßlichen Rolle bei den Vergiftungen zu machen. Der „Oberste Führer“ Iran, Ajatollah Ali Chamenei, hatte die Fälle nur einen Tag zuvor als „unverzeihliches Verbrechen“ bezeichnet und den Tätern mit dem Tod gedroht. An Karfreitag kündigte Teheran nach scharfer Kritik und Protesten an, in Kürze einen Bericht zu den Vorfällen vorzulegen.
„Augenwischerei“, kritisieren Menschenrechtsgruppen und Eltern. Viele Angehörige werfen den Behörden Versagen vor oder vermuten, die Vorfälle würden geduldet, um Mädchen vom Schulbesuch abzuhalten. Aktivisten wiederum gehen davon aus, dass das Regime selbst hinter den Vergiftungen steckt. Das von Mullahs regierte Land hat einen allgegenwärtigen Überwachungsstaat geschaffen – samt flächendeckender Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Niemand anderes als das Regime selbst sei in der Lage, Anschläge in diesem weitreichenden Ausmaß zu verüben. Wären die Täter tatsächlich in den Reihen der „ausländischen Feinde der iranischen Republik“ zu verorten, wie Präsident Ebrahim Raisi unlängst behauptete, hätte man sie sicherlich schon längt überführt.