Nûrê Şengal: Die Guerilla machte uns Mut

Vor sechs Jahren ist der IS in Şengal besiegt worden. Nûrê Şengal ist eine der Frauen, die die kämpfenden Einheiten mit Essen versorgten und damit einen unverzichtbaren Beitrag leisteten.

Vor sechs Jahren fand die letzte Großoffensive gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) im ezidischen Siedlungsgebiet Şengal statt, am 13. November 2015 wurde der Sieg ausgerufen. Am Widerstand gegen Genozid und Femizid beteiligt waren bewaffnete Einheiten der Guerillaorganisationen HPG und YJA Star, der ezidischen Verbände YBŞ/YBŞ, der Verteidigungskräfte YPG/YPJ aus Rojava und ganz zuletzt auch der Peschmerga. Eine unverzichtbare Rolle spielten jedoch auch die Frauen, die die Kampfverbände unterstützten. Eine dieser Frauen war Nûrê Şengal. Sie ist heute Mitglied des selbstverwalteten Volksrats von Xanesor und hat ANF von ihren damaligen Erlebnissen berichtet.

Als der IS am 3. August 2014 Şengal angriff, versuchten die Menschen nach Südkurdistan zu flüchten. Nûrê kommt aus einem Dorf bei Xanesor und erzählt: „Wir waren in unserem Garten in Rabia, als der Angriff losging. Am frühen Morgen hörten wir Schüsse. Wir nahmen unsere Kinder und gingen mit mehreren Familien nach Südkurdistan. Wir sind einen Tag gelaufen. Im Süden wurden wir in Lagern untergebracht. Mein Mann kehrte nach Şengal zurück, um zusammen mit der Guerilla zu kämpfen. Sobald der Weg frei war, kam ich mit den Kindern nach. Egal wie die Situation ist, es ist immer besser, auf dem eigenen Boden zu sein, als in der Fremde.

Der Krieg dauerte immer noch an, deshalb gingen wir an den Rand des Gebirges. Die Guerilla stellte ein Zelt für uns auf. In diesem Moment war ich sehr erleichtert. Das Zelt war für mich wie eine Festung, weil es sich auf unserem eigenen Boden befand. Der IS war zu jener Zeit immer noch in einigen Dörfern. Die Guerilla hat uns sehr geholfen. Nachdem wir sie kennengelernt hatten, kannten wir den richtigen Weg. Auf diese Weise haben wir auch von den Ideen von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] erfahren.“

Von der Befreiung der Region Ende 2015 berichtet Nûrê: „Die Guerilla kämpfte und wir machten Essen für sie. Wir kamen mit mehreren Müttern zusammen und kochten Essen in großen Töpfen über dem Feuer. Das Essen schickten wir an die Front. Der Krieg war sehr hart, aber wir waren an der Seite der Guerilla und deshalb voller Moral. Im Nachhinein erscheinen mir diese Tage noch schöner als heute. Wir waren glücklich, denn die Freiheit war nicht mehr fern. Es kam vor, dass wir sehr erschöpft waren, aber die Müdigkeit verschwand, wenn wir die Kämpferinnen und Kämpfer gesehen haben. Sie haben für uns ihr Leben geopfert und wir wollten alles für sie tun, was uns möglich war. Ich war früher sehr ängstlich, aber durch die Guerilla konnte ich meine Angst besiegen. Sie haben uns beigebracht, stark zu sein. Als Mütter haben wir damals beschlossen, dass wir selbst zur Waffe greifen und uns verteidigen werden, wenn es notwendig sein sollte. Die Guerilla brachte uns bei, dass wir weitere Massaker erleben werden, wenn wir uns fürchten. Sie haben uns Mut gemacht. Meiner Tochter hat sich in jener Zeit den YJŞ angeschlossen. Viele Menschen haben damals gesagt, dass sie noch sehr jung ist. Ich habe gesagt: Erlaubt ihr, dass sie lernt, sich selbst zu verteidigen. Als Şengal befreit wurde, waren wir in den Bergen. Die Guerilla kam und hat uns davon erzählt. Wir waren sehr glücklich und haben gefeiert.“

Nûrê wünscht sich, dass alle vertriebenen Ezid:innen nach Şengal zurückkehren: „Şengal ist heute schöner als früher. Nach der Befreiung ist die Selbstverwaltung gegründet worden, wir haben Räte und Institutionen aufgebaut. Ich beteilige mich an der Arbeit des Volksrats. Wenn alle Eziden nach Şengal zurückkehren, wird es hier noch schöner werden.“

Hintergrund: Die Rolle der PKK bei der Verteidigung von Şengal

Am 3. August 2014 begann mit dem IS-Überfall auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet Şengal der letzte Genozid an den Ezidinnen und Eziden. Wer sich an dem heißen Sommertag retten konnte, flüchtete in die Berge. Auf dem Weg dorthin verdursteten unzählige Kinder und ältere Menschen. Männer, die es nicht mehr wegschafften, wurden bestialisch ermordet. Etwa 7.000 ezidische Frauen und Mädchen wurden entführt und auf Sklavenmärkten verkauft, misshandelt und vergewaltigt. Verschleppte Jungen wurden zu Selbstmordattentätern ausgebildet. Mindestens 10.000 Menschen wurden Schätzungen nach getötet, über 400.000 aus ihrer Heimat vertrieben. Rund 2.700 bis 2.800 ezidische Frauen, Männer und Kinder werden bis heute vermisst.

Der Ferman vor sieben Jahren, wie die Ezidinnen und Eziden die Verfolgungswellen gegen ihre Gemeinschaft bezeichnen, führte damals nicht nur zu einer humanitären Katastrophe, sondern hatte zum Ziel, das ezidische Volk auszulöschen. Als Mittel dazu richtete sich der Angriff systematisch gegen Frauen. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Feminizid dar.

Die PKK hatte bereits am 28. Juni 2014 nach einem Aufruf Abdullah Öcalans ein zwölfköpfiges Vorabkommando zur Verteidigung von Şengal entsandt. Zwanzig Tage vor dem Massaker nahmen die Peschmerga drei Mitglieder der Gruppe und einen ezidischen Unterstützer fest. Die übrigen Guerillakämpfer zogen auf den Şengal-Berg und begannen mit der Organisierungsarbeit der Jugend. Als am 3. August der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe die auf den Şengal-Berg geflohene Bevölkerung.

Hunderte Guerillakämpfer:innen bei Evakuierung der Bevölkerung gefallen

Die Guerillakämpfer hielten die westlich von Şengal verlaufende Straße von Sinûnê nach Dugirê und ließen keine Eroberung des Gebirges durch den IS zu. Die ezidischen Jugendlichen zogen Kraft aus dem Guerillawiderstand und schlossen sich der Verteidigung des Berges an. Nachdem die neunköpfige Guerillagruppe ohne Essen und Trinken mehrere Tage gegen die Angriffe des IS Widerstand geleistet hatte, kamen am 6. August zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava den HPG zu Hilfe. Anschließend richteten die YPG/YPJ und die HPG zusammen mit den inzwischen eingetroffenen Kämpferinnen der Frauenguerilla YJA Star einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Ezid:innen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten mit der Zeit mehr als 200.000 Menschen in das Autonomiegebiet von Nord- und Ostsyrien gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden. Die Aufrechterhaltung des „humanitären Korridors“ forderte ebenfalls Opfer. Allein etwa 100 Kämpfer:innen fielen bei der Evakuierung der Bevölkerung. Insgesamt sind im Verlauf des Genozids fast 300 Mitglieder der kurdischen Verteidigungskräfte gefallen.

Im April 2018 hat die Guerilla ihre Aufgaben in Şengal erfolgreich abgeschlossen und sich in die Qendîl-Berge zurückgezogen. Heute wird Şengal von den YBŞ und den Fraueneinheiten YJŞ verteidigt. Die Bevölkerung verwaltet sich selbst über Volksräte.