Newroz in Amed: Willensbekundung für Frieden und Demokratie

In Amed feiern Hunderttausende Newroz. Das Fest ist eine Willensbekundung für Frieden und Demokratie.

Ein fünf Meter hoher Stacheldrahtzaun, davor zwei Meter hohe Polizeizäune in mehreren Reihen angeordnet, riegeln die Newroz-Bühne in Amed (tr. Diyarbakır) und den Platz davor ab. Damit soll verhindert werden, dass Gäste aus dem Publikum heraufstürmen. Für die kurdische Jugendbewegung, die beste Erfahrungen im Umgang mit solchen Störaktionen hat, stellt der „Grenzwall“ aber kein Hindernis dar. Die Spitze eignet sich offenbar nicht nur als Sitzfläche, sondern auch als Podest für den kurdischen Govend, wie auf beeindruckenden Bildern zu sehen ist. Polizeibeamte in Kampfmontur versuchten vergeblich, die Jugendlichen von der Konstruktion zu holen.


Hunderttausende haben sich am Dienstag im Newroz-Park im Stadtteil Rezik (Bağlar) zusammengefunden, um das Finale des diesjährigen Neujahrsfestes zu begehen. Eigentlich ein fröhlicher Tag, schließlich markiert er den Beginn des Frühlings. Doch in die Feierstimmung mischen sich Wut und Frust über den Umgang der Regierung mit den verheerenden Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion und darüber, dass die Katastrophe politisch ausgeschlachtet wird. Über 50.000 Menschen sind offiziell allein in der Türkei ums Leben gekommen und noch immer wird nach Vermissten gesucht. 230.000 Gebäude wurden nach Angaben der Regierung zerstört oder können nicht mehr bewohnt werden. Mehr als eine Million Menschen leben in Zelten, und das sechs Wochen nach der schweren Katastrophe. Währenddessen macht Präsident Recep Tayyip Erdoğan große Versprechen, behauptet, neue Häuser für die Betroffenen innerhalb eines Jahres fertigzustellen, um für sich und seine Politik zu werben.


Die Bühne ist in diesem Jahr nicht bunt geschmückt, sondern schwarz. Ohnehin wurde Newroz 2023 den Opfern der Erdbebenkatastrophe gewidmet. Auf Schildern ist das Motto „Mit dem Newrozfeuer zur Freiheit“ und „Überall Newroz, immer für die Freiheit“ zu lesen. Auf dem Platz prangen auf verschiedenen Stellen riesige Transparente mit Aufschriften wie „Mit den Haaren von Jina werden wir unseren Widerstand stärken“ – gemeint ist die Kurdin Jina Mahsa Amini, die im September wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die islamistische Kleiderordnung in Iran Opfer eines staatlichen Femizids wurde – und „Kemal Kurkut ist unsterblich“. Damit soll an den jungen Kunststudenten erinnert werden, der an Newroz 2017 in Amed von einem Polizisten erschossen worden war. Auf anderen Plakaten steht „Şîna me sedema tekoşîna me ye“ – zu Deutsch: „Unsere Trauer ist Grundlage unseres Kampfes“. Es werden Fahnen der Parteien des Bündnisses für Arbeit und Freiheit, das die Feier mitorganisiert, des Fußballclubs Amedspor und Banner mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan geschwenkt.


Ahmet Türk: Für Frieden und eine starke Demokratie

Zu Beginn des Festes wurde das traditionelle Newroz-Feuer entzündet. Es gilt als Symbol gegen Tyrannei und für den Widerstand, hat aber auch eine politische Komponente. Dies kam auch in den zahlreich gehaltenen Reden und verlesenen Botschaften zum Ausdruck. „Das kurdische Volk sehnt sich nach einem großen Frieden und einer starken Demokratie“, sagte das politische Urgestein Ahmet Türk. Das diesjährige Newroz solle daher grundsätzlich als Willensbekundung der Kurdinnen und Kurden für die „Zerschlagung des Faschismus“ und als Aufforderung an die demokratische Öffentlichkeit betrachtet werden, dieses Bemühen zielstrebig zu unterstützen. „Lasst uns gemeinsam die Despotie des türkischen Faschismus und die Regierungszeit der derzeitigen Herrschenden beenden. Es liegt an uns, den Weg zum Frieden zu ebnen und unser Ideal einer demokratischen Nation zu erreichen. Unentbehrlich für dieses Ziel ist die Freilassung von Abdullah Öcalan. Denn er ist nicht nur Repräsentant des kurdischen Volkes, sondern Architekt eines Friedensplanes, den wir umsetzen wollen“, sagte Türk.


Sancar: Für einen Wind der Veränderung

Der Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, sprach von einem Entscheidungsjahr in der Türkei. Das Bündnis für Arbeit und Freiheit, dem neben der HDP auch EMEP, TIP, EHP, SMF und TÖP angehören, werde dafür sorgen, dass die Wählerinnen und Wähler Erdogan am 14. Mai abwählten. Man fordere einen „Wind of Change“, den Wind der Veränderung, der über dem Land wehen soll. So werde es gelingen, zurück auf den Pfad von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit finden.

Die Ketten des Krieges abschütteln

„Die Türkei wird von Kriegstreibern beherrscht. Seit acht Jahren erleben wir eine Eskalation eines Krieges bisher ungekannten Ausmaßes, der sich gegen die kurdische Gesellschaft und mit ihr gegen alle Demokratiekräfte richtet“, sagte Sancar mit Blick auf den „Çöktürme Planı“ – ein Begriff, den man sinngemäß als „Zersetzungsplan“ übersetzen kann – der vom türkischen Staat seit dem einseitigen Abbruch des „Friedensprozesses“ mit Abdullah Öcalan zielstrebig in die Praxis umgesetzt wird. Zwischen 2013 und 2015 hatte es Gespräche zwischen der PKK und dem türkischen Staat gegeben, die das Ziel verfolgten, eine demokratische Lösung der kurdischen Frage zu erarbeiten. „Öcalan hatte zu einer Zeit, in der sich der Nahe Osten in ein Meer von Blut verwandelt hat, in dem Versuch, zu einer Lösung beizutragen, einen lokalen, friedlichen und vernünftigen Ansatz für alle Völker der Region vorgeschlagen. Doch der Tisch wurde umgeworfen und sein Ansatz ist zur Zielscheibe der herrschenden Machteliten geworden. Die damit einhergehende Eskalation der Kriegspolitik hat auch zur Vertiefung seiner Isolation auf Imrali geführt, die sich auf die gesamte Gesellschaft auswirkt. Dieser Zustand ist für praktisch alle Krisen im Land verantwortlich. Deshalb fordern wir: Für eine demokratische Lösung der Krisen in diesem Land und nachhaltigen Frieden muss die Isolation aufgehoben werden. Denn Isolation bedeutet Krieg. Wir sind es leid, die Ketten des Krieges zu tragen, und werden sie am 14. Mai abschütteln.“

Botschaft von Talabanî

Ungewöhnlich deutliche Worte hinsichtlich der Isolation fand auch der YNK-Vorsitzende Bafel Talabanî, der sich mit einer Videobotschaft an die Gäste der Newroz-Feier in Amed wendete – auch wenn der Name Öcalans nicht explizit genannt wurde. „Lasst unsere Politiker und Repräsentanten frei und räumt alle Hindernisse aus dem Weg, die ihr gegen das Volk, Anwälte und Ärzte gerichtet habt“, hieß es in der Botschaft Talabanîs. Der Politiker rief alle Kurdinnen und Kurden auf, Angriffe gegen die Errungenschaften des kurdischen Volkes mit „nationaler Einheit“ zu beantworten und sprach den Angehörigen der Opfer des Erdbebens sein Beileid aus. „Meine Hoffnung ist, dass das diesjährige Newroz-Fest den Startschuss für den gemeinsamen Widerstand der Kurden geben wird. Lasst unsere Differenzen beiseitelegen und Schulter an Schulter für unsere Errungenschaften kämpfen“, so Talabanî.


Das Bühnenprogramm wird mit weiteren Reden und musikalischen Beiträgen fortgesetzt. Auch in anderen Städten Nordkurdistans und der Türkei, darunter in Cizîr, Nisêbîn und Çanakkale, finden große Feiern statt.