Karayilan: Gegen Rojava wird ein verdeckter Krieg geführt

Die Türkei will durch ihren Drohnenterror gegen Nordostsyrien den Status quo an der Grenze ändern, sagt Murat Karayilan (PKK) im Interview mit Dengê Welat. Es muss erkannt werden, dass der Krieg gegen die Autonomiegebiete längst begonnen hat.

Rojava ist jeden Tag vielfältigen Angriffen ausgesetzt. Der türkische Staat führt extralegale Tötungen durch Kampfdrohnen durch und bombardiert Gebiete der Region. Zugleich mehren sich Berichte, wonach Ankara von anderen Akteuren in der Region kein grünes Licht für eine neuerliche Invasion erhalten hat. Ein Blick auf die derzeitige Angriffssituation steht jedoch im Widerspruch zu diesen Berichten. Stehen die Signale für den türkischen Staat etwa doch auf grün?

Die Rede ist vom Dreiergipfel [mit Iran und Russland], der vor einiger Zeit in Teheran stattgefunden hat. Es scheint tatsächlich so, dass der türkische Staat keine Zustimmung von den internationalen Mächten bekommen hat – zumindest keine offizielle. Möglicherweise gab es aber geheime Abmachungen, dazu können wir nichts sagen. Fakt ist, der türkische Staat hat Rojava und Nordostsyrien den Krieg erklärt. So wie er bereits Südkurdistan den Krieg erklärt hat und diesen auch führt, wird dieselbe Methodik auch auf Rojava beziehungsweise Nord- und Ostsyrien angewendet. Krieg bedeutet nicht unbedingt, dass Soldaten vom Boden aus angreifen. Das aktuelle Kriegsgeschehen reicht von politisch-diplomatischen Kampfhandlungen über Drohnenangriffe und Aufklärungsoperationen bis hin zu Artillerieschlägen. Haubitzen und Kanonen sind fast genauso effektiv wie Luftstreitkräfte, ihre Ziele werden mit geografischen Koordinaten lokalisiert. Wir sehen ja, dass es in Şehba, Cizîrê, Kobanê, Ain Issa und anderswo Tag für Tag zu Bombardierungen von Dörfern kommt. Das ist Krieg. Niemand sollte sich etwas vormachen.

Der türkische Staat will durch diese Art von Kriegsführung den Status quo an der Grenze festschreiben. Natürlich werden die dortigen Kräfte auf diese Angriffe reagieren, aber im Grunde geht es darum, gewisse Fakten zu schaffen. Es ist ein Plan, dessen Realität die Autonome Administration, die Demokratischen Kräfte Syriens und alle anderen Kräfte in Nord- und Ostsyrien erkennen müssen. Niemand sollte erwarten, dass dieser Krieg erst dann als solcher benannt wird, wenn die Truppen des türkischen Staates mit hoher Angriffsstärke aufmarschieren. Das, was derzeit passiert, ist ohnehin Krieg. Das muss verstanden und entsprechend gehandhabt werden. Es ist wichtig, dass diese Tatsache allen Partnern und der Öffentlichkeit gut vermittelt wird. Der türkische Staat greift pausenlos die Zivilbevölkerung sowie Kommandierende an, die gegen den IS im Einsatz waren und hart gekämpft haben. So wie bereits einige Freundinnen und Freunde, die sich in Şengal am Kampf gegen den IS beteiligt haben, ermordet worden sind, werden Attentate wie diese auch in Rojava durchgeführt. Zuletzt wurden Jiyan Tolhildan und zwei ihrer Weggefährtinnen auf diese Weise getötet. In der Person der geschätzten Kommandantin Jiyan Tolhildan gedenke ich all unserer Gefallenen, die bei solchen Angriffen des Feindes geopfert wurden, und verneige mich respektvoll vor ihrem Andenken. Sie sind Gefallene von Kurdistan.

Gehen wir beispielsweise der Frage nach, wer Jiyan Tolhildan war. Die Antwort lautet: Sie war eine Kommandantin, die zehn Jahre gegen den IS kämpfte. Zuletzt war sie Befehlshabende der Antiterroreinheiten YAT. Diese Kräfte wurden speziell für den Kampf gegen den IS-Terror gebildet und arbeiten ausschließlich mit der internationalen Anti-IS-Koalition zusammen. Wenn nun die Truppen, die sich Koalition nennen, angesichts der Realität, dass der türkische Staat eine Kommandantin dieser Organisierung ins Visier nimmt, schweigen, bedeutet dies nichts anderes, als eine Mitschuld zu tragen. Wie kann es passieren, dass eine ihrer Gefährtinnen auf diese Weise ermordet wird? Dies erfordert eine Erklärung. Die Rojava-Revolution sollte in dieser Hinsicht sicherlich eine viel effektivere Diplomatie anpeilen. Dieser Vorfall muss sowohl mit der Öffentlichkeit als auch den ausländlichen Partnern richtig kommuniziert werden. Sie haben ein Recht auf Vergeltung, aber da besteht das Risiko, dass eine solche Handlung als erwünschter Grenzkrieg interpretiert wird, wie es beim türkischen Staat der Fall ist. Daher sollten diese Fakten zuerst der Öffentlichkeit und den genannten Kräften dargelegt werden. Erst dann müssen diese Angriffe entweder gestoppt oder Vergeltungsmaßnahmen ergriffen werden. Es wird Blut vergossen, das der Zivilbevölkerung und ihrer Kommandierenden. Damit sind die Kriegsziele bereits benannt.

Dieser Staat, insbesondere das AKP/MHP-Regime will durch Blutvergießen seine Macht erhalten. Über einen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden sowie Nord- und Ostsyrien noch vor den nächsten Wahlen wird versucht, wieder über die nationalistische Karte zu trumpfen und Stimmen zu holen. Wir stehen einer schmutzigen und blutsaugenden Mentalität gegenüber, die bedenkenlos als sadistisch bezeichnet werden kann. Diese barbarische Art manifestiert sich in Angriffen gegen die Zivilbevölkerung – ob in Şehba, Cizîrê und allen anderen Regionen, oder in Attentaten auf Kommandierende des Kampfes gegen den IS, die gerade ihrer Aufgabe nachgehen oder unterwegs zu einem Einsatz sind. Dies ist eine unglaublich feige Kriegsführung.

Angesichts dessen ist es die Pflicht aller, eine eindeutige Haltung einzunehmen. Es ist in erster Linie Aufgabe der Politikerinnen und Politiker Nord- und Ostsyriens sowie seiner Wegbereitenden, den politischen, diplomatischen und militärischen Widerstand erfolgreich zu führen. Sowohl regionale als auch internationale Kräfte müssen aufgeklärt werden, außerdem steht das Vergeltungsrecht im Raum. Das sind die Optionen der Völker von Rojava und Nordostsyrien. Sie müssen wissen, dass der türkische Staat derzeit einen speziellen und verdeckten Krieg führt. Sie sollten entsprechende Maßnahmen ergreifen, ohne sich selbst zur Zielscheibe zu machen. Nord- und Ostsyrien muss handeln, um sich zu schützen. Es muss wissen, dass es sich in einer außergewöhnlichen Kriegssituation befindet.