Während sich in den türkischen Metropolen die Kämpfe um die Rechte von Frauen zuspitzen, greift die türkische Armee die Guerilla in Südkurdistan an. Raperîn Munzur, Mitglied der Koordination der Partei der freien Frauen Kurdistans (PAJK), hat im ANF-Interview über die Lage in Kurdistan, den Widerstand in der Türkei und den beginnenden Zerfall des Erdoğan-Regimes gesprochen.
Wie entwickeln sich die Angriffe des türkischen Staates auf die Gebiete Zap, Metîna und Avaşîn und wie leistet die Guerilla dagegen Widerstand?
Allem voran möchte ich den heldenhaften Gefallenen dieses Widerstandes gedenken. Sie sind unser Fundament. Sie haben uns gezeigt, wie wir uns wehren sollten, wie wir kämpfen sollten und wie wir uns diesem grausamen Gegner entgegenstellen sollten. Es ist an uns, diese Faschisten aus Kurdistan zu vertreiben.
Die Kämpfenden für die Freiheit Kurdistans befinden sich in Südkurdistan genau wie an anderen Orten im Widerstand, um die Existenz des kurdischen Volkes, das Land und die Würde zu verteidigen. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel und führen einen umfassenden Kampf gegen die Operationen der Besatzer in Metîna, Zap und Avaşîn. Auch sie sind Heldinnen und Helden. Sie sind aufopferungsvolle Militante, die sich ihren Ländern und der Freiheit verschrieben haben. Dass es gegen die barbarischen und furchteinflößenden Angriffe des türkischen Staates einen solchen Widerstand gibt, ist den vom Vorsitzenden Apo geschaffenen Ideen zur militanten Persönlichkeit zu verdanken. Rêber Apo gibt uns Kraft, Ideen und Willensstärke, mit deren Hilfe wir diesen Widerstand fortführen. Das ist die Quelle unseres Widerstandsgeistes und unserer Kraft.
Der südkurdischen Öffentlichkeit werden die Angriffe vom türkischen Staat als ‚nur gegen die PKK‘ verkauft und einige Kreise nehmen dieses Narrativ an. Entspricht das der Realität?
Eins muss ganz klar gesagt werden: Diese Angriffe stellen eine Besatzung Südkurdistans dar. Die einzige Kraft, die sich dem widersetzt, ist die PKK und ihre Guerilla. Die PKK ist die Kraft, die im Norden wie im Süden Widerstand leistet und sich Besatzung und Genozid entgegenstellt. Die Guerilla leistet weiter Widerstand, um südkurdisches Territorium und unsere Errungenschaften zu schützen. Sie riskieren ihr Leben, um das faschistische Regime zu stoppen und Freiheit für alle Kurdinnen und Kurden zu erkämpfen.
Dieser Krieg ist inzwischen mehr als ein Krieg zwischen der Guerilla und dem türkischen Staat. Der türkische Staat nutzt die Situation, die durch globale Konflikte geschaffen wurde, um seine Grenzen zu verschieben. Er versucht auch alle anderen Teile Kurdistans zu besetzen. Das zeigt sich sehr deutlich durch die Angriffe auf Südkurdistan, Rojava und Şengal. Indem die Besatzung und die genozidale Politik als bloßer Kampf gegen die PKK dargestellt werden, wird versucht, den gerechtfertigten Kampf der PKK als terroristisch zu brandmarken und sich so zudem die Erlaubnis für eine Ausweitung der Angriffe einzuholen. Diese Diskurse stoßen in einigen Kreisen, in einigen Teilen der türkischen Bevölkerung und bei den Behörden Südkurdistans auf Zustimmung und es wird die Schuld bei der PKK gesucht.
Der türkische Staat plant einen Völkermord an den Kurden und will alle Regionen mit kurdischer Bevölkerung unter seine Kontrolle bringen. Er hält sich für den Herrscher über die Kurden. Dem Verständnis des türkischen Staates zufolge sind die Kurden verpflichtet, sich ihm unterzuordnen, sich versklaven zu lassen und sich zu ergeben. Tun sie dies nicht, müssen sie massakriert werden. Der AKP/MHP-Faschismus hat diese Tradition und die Massaker zu einem neuen Höhepunkt geführt und wird dabei von einigen anderen Kräften unterstützt.
„Wer ist die PKK?“
Nehmen wir an, es würde tatsächlich nur darum gehen, die PKK zu besiegen. Wenn es so wäre, wäre das eine akzeptable und rechtmäßige Begründung? Wer ist die PKK? Ist sie nicht eine Partei, der Millionen von Kurden vertrauen, sich ihr anschließen und sie als Teil ihrer Identität sehen? Ist sie nicht eine Volksbewegung, die sich der Unterdrückung, den Massakern und der Besatzung widersetzt, und deren Philosophie eine Philosophie der Freiheit ist? Ist sie nicht eine Bewegung, die die Würde der Frauen sicherstellt und ihre Freiheit aufbaut? Kämpft sie nicht für Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben und verteidigt die Rechte der Unterdrückten? Ist die PKK nicht Wegbereiterin für all das? War sie nicht immer die Stimme eines Volkes am Rand der Vernichtung, dessen Existenz und Identität ausgelöscht werden sollte? War es nicht die PKK, die sich angesichts der Massaker an den Eziden im Şengal dem Islamischen Staat entgegen gestellt hat und so den Verkauf weiterer Frauen auf den Marktplätzen des Kalifats verhindert hat? Ist sie nicht eine Organisation, die 40 Jahre lang ganz Kurdistan verteidigt und gegen Würdelosigkeit und Sklaverei gekämpft hat? Sind die zehntausenden Gefallenen und tausenden Militanten keine Kinder dieses Volkes? Nehmen wir an, das einzige Motiv des türkischen Staates wäre die Vernichtung der PKK. Ist das zu akzeptieren? Wer gibt ihm die Erlaubnis, Millionen von Menschen zu vernichten, die sich Tag für Tag erheben und sagen: ‚Die PKK ist das Volk und das Volk ist hier.‘ Ist die PKK etwa keine Bewegung aus Kurdistan?
Weil die PKK all dies ist, ist der Diskurs, der die Angriffe zu legitimieren versucht, nicht zu akzeptieren. Er ist Ausdruck einer faschistischen Mentalität. Die Angriffe des türkischen Staates lassen sich auf keine Weise rechtfertigen. Sie dürfen nicht akzeptiert werden.
Wir sind uns der Wünsche des türkischen Staates nach Expansion und Besatzung bewusst. Gäbe es keine PKK, würde er diese Pläne sehr viel einfacher und schneller umsetzen. Dass die PKK den türkischen Staat bei seinen Plänen behindert, hat dessen Wut und Aggression zur Folge. Er hat den IS vorgeschickt und ihm alle erdenkliche Unterstützung zukommen lassen, aber er konnte die PKK nicht besiegen. Er greift mithilfe der eigenen Armee und ihrer barbarischen Methoden an, und kann die PKK trotzdem nicht aufhalten. Er bringt seine gesamte Diplomatie ins Spiel und hat trotzdem keinen Erfolg. Er versucht die ganze Welt mit seiner tagtäglichen Terrorpropaganda zu vergiften und sie uns zum Feind zu machen, aber die PKK gewinnt weiter an Unterstützung und Sympathie. Die Bevölkerung hat sich selbst neu aufgebaut und ein Bewusstsein für Freiheit erlangt. Das kann niemand aufhalten. Die barbarische Politik, die Massaker und das faschistische Agieren des türkischen Staates werden immer offensichtlicher. Der Widerstand bringt das ans Tageslicht. Der jetzt geleistete Widerstand macht viele Dinge klarer.
Was verspricht sich die AKP/MHP-Regierung von diesem Krieg?
Das AKP/MHP-Regime besteht aus Völkermördern und Besatzern und es ist kurdenfeindlich. Es hat sich geschworen, alle kurdischen Errungenschaften rückgängig zu machen. Erdoğans faschistisches Regime hat große Angst angesichts der Existenz der Kurden, ihrer Kraft und ihrer Erfolge. Der kurdische Freiheitskampf, der erreichte Grad von freiheitlichem Bewusstsein und dessen weltweite Rezeption sind zum Albtraum dieses Regimes geworden. Der türkische Staat kann nicht tolerieren, dass dieses Bewusstsein der Freiheit erreicht wurde, dass die Kurden inzwischen in der Lage sind, sich selbst zu verwalten, dass ihre Freundinnen und Freunde in anderen Ländern mehr und mehr werden, und dass die Welt die Rechtmäßigkeit all dessen anerkennt. Das Regime hat seine eigene Existenz darauf aufgebaut, die kurdische Freiheitsbewegung zu stoppen und die Kurden zu massakrieren. Um sich aus dem Trauma und den Folgen der Gare-Operation zu retten, haben sie die Angriffe derart ausgeweitet.
Es ist zur Tradition geworden, immer dann den Nationalismus anzufachen und die Kurden anzugreifen, wenn es Probleme im Inneren gibt und die Reaktionen der Gesellschaft auf die Politik zunehmen. Um sich selbst auf den Beinen zu halten, werden immer neue Besatzungen und Massaker geplant. Diese Politik verstetigt sich. Erdoğan und seine faschistischen Verbündeten leben vom Blutvergießen. Es ist offensichtlich, dass er in einen Krieg zieht gegen alle Errungenschaften der Kurden und dass er seine eigene Existenz nur durch Massaker gesichert sieht. Angesichts dieser Situation ist es ein Verbrechen gegen das kurdische Volk, wenn südkurdische Organisationen die Realität nicht anerkennen und ihre eigenen Pläne verfolgen, anstatt eine Kraft auf Basis nationaler Einheit zu schaffen.
Der türkische Staat hält Teile Südkurdistans und Rojavas besetzt. Es ist offensichtlich, dass er einen Völkermord im Sinn hat. Zudem zieht er aus verschiedenen Teilen Syriens Dschihadisten und ehemalige IS-Mitglieder zusammen, um sie in diesem Krieg zu benutzen. Diese Banden werden in den besetzten Gebieten angesiedelt. Das Erdoğan-Regime unterstützt auch weiterhin den IS. In Riha, Dîlok, Meletî und an weiteren Orten wurden solche Banden angesiedelt und vom Staat benutzt.
Welche Rolle kommt den demokratischen Kräften, der Jugend und den Frauen angesichts dieser Angriffe des türkischen Staates zu?
Es sind die Frauen und die Kurden, die sich am entschlossensten dem Faschismus entgegen stellen. Der Kampf der Frauen ist stark und trägt viel Bedeutung in sich. Trotz härtester Angriffe kämpfen sie weiter für ihre Rechte und lassen sich nicht in die Knie zwingen. Der Widerstand von Emine Şenyaşar ist ein Symbol für den Kampf der Frauen und ich grüße sie im Namen unserer Bewegung. Ihr Widerstand geht weit über ihr eigenes Verlangen nach Gerechtigkeit hinaus. Er kann als Widerstand gegen all die Unterdrückung, Repression und Massaker gesehen werden, die die Kurden erleben. Es ist wichtig, das zu erkennen und zu unterstützen.
Gleichzeitig dauert der Widerstand der Frauen gegen den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention an. Es gibt einen Kampf gegen die tagtäglichen Morde und die Gewalt an Frauen. Aus Angst vor diesem Widerstand zeigt der Faschismus sein wahres Gesicht und tut alles, um ihn zu unterdrücken.
Doch selbst angesichts dieser angsteinflößenden Unterdrückung und umgeben von Krieg ergeben sich die Kurden nicht. Sie leisten Widerstand und verteidigen das, woran sie glauben. Und gerade weil wir uns widersetzen und kämpfen, tritt der Faschismus so klar zu tage. Stünden dem Staat keine Widerständigen gegenüber, so könnte es alles in die von ihm gewünschten Bahnen lenken und tun, was er will. Aber ihm gegenüber steht eine Bewegung, die das nicht zulässt, die Widerstand leistet, die sein faschistisches wahres Gesicht sichtbar werden lässt und die eine wirkliche Bedrohung für die Mächtigen darstellt. Der Widerstand der Kurden und der Frauen hat die herrschenden Verhältnisse ins Wanken gebracht. Um diesen Widerstand zu brechen, versucht das Erdoğan-Regime die Voraussetzungen für einen Völkermord an dem widerständigsten Teil der Bevölkerung, den Kurden, zu schaffen.
„Billige Sprüche ohne Widerhall in der Gesellschaft“
Um die Erlaubnis dafür auf internationaler Ebene zu erhalten, ist die Regierung bereit, alles zu verkaufen und Zugeständnisse in jeder Sache zu machen. Es gibt keine fremde Macht, vor der die Regierung nicht auf die Knie gefallen wäre, und trotzdem reden ihre Politiker jeden Tag davon, ‚national eingestellt‘ zu sein. Wie lächerlich das ist und wie wenig Widerhall derart billige Sprüche in der Bevölkerung inzwischen haben, scheint ihnen nicht bewusst zu sein. Es gibt niemanden mehr, der nicht mitbekommt, wie sie sich erst gegenüber einem Land oder einer Person als starker Mann aufspielen, um sich dann vor genau den gleichen Kräften auf die Knie zu werfen, sobald die Öffentlichkeit nicht mehr hinguckt. Traurigerweise ist die türkische Gesellschaft infolge dieser mit Zwang durchgesetzten faschistisch-chauvinistischen Propaganda wie betäubt. Gleichzeitig sind die linken demokratischen Kräfte, deren Aufgabe es gewesen wäre, die Bevölkerung zu bilden und zu organisieren, dem nicht ausreichend nachgekommen. Das ist eine der größten Schwächen der türkischen Gesellschaft.
Die revolutionären und demokratischen Menschen in der Türkei sollten sich mehr auf die Tradition von Deniz Gezmiş, Mahir Çayan und Ibrahim Kaypakkaya konzentrieren und in einem so historischen Moment stärker an der Seite der kämpfenden Kurden stehen. Sie sollten wissen, dass es ihre Verantwortung ist, die unter faschistischen Angriffen und Repression ächzende Gesellschaft zu verteidigen. Unser Kampf ist auch der Kampf für die Freiheit der türkischen Gesellschaft und für ihre Rettung vor dem Faschismus. Es ist der Kampf für die Freiheit der Frauen. Alle demokratischen und revolutionären Kräfte müssen sich besser um ihre Aufgaben kümmern. Die Opposition und die Verteidigung der Gesellschaft den Parteien und den Kräften des Systems zu überlassen oder der Gesellschaft Hoffnung in diese Systemparteien zu geben, ist eine große Schwäche. Egal wo auf der Welt es solch eine ökonomische Krise, so viel Repression, so viele Rechtsbrüche und antidemokratisches Vorgehen gegeben hat, sind dort immer Aufstände explodiert. Es sind Rebellionen entstanden.
Was muss in dieser Phase getan werden, um die Existenz der Kurden und ihrer Errungenschaften zu schützen?
Der revolutionäre Volkskrieg ist die Selbstverteidigung eines Volkes. Es wehrt sich gegen Angriffe und ist in der Lage, auf alle möglichen Arten organisierte Antworten auf Besatzung und Massaker zu geben. Das Leben der Gesellschaft muss der Kriegssituation entsprechend organisiert werden und sie muss in die Lage versetzt werden, sich selbst verteidigen zu können. Bei derart starken Angriffen darf es kein individuelles Leben und Arbeiten mehr geben, denn es findet ein Kampf um die bloße Existenz statt. Unter rein physisch schon nicht aushaltbaren Bedingungen, in der Klaue von Massakern und Völkermord, kann von Leben keine Rede sein. Deshalb müssen sich alle entsprechend der Realität des Krieges organisieren und in den Widerstand treten. An den Rand seiner eigenen Vernichtung gedrängt wird der Faschismus mehr als je zuvor die Repression und die Angriffe verstärken. Es ist unerlässlich, darauf vorbereitet zu sein.
„Ohne Freiheit gibt es kein Leben“
Die Guerilla kommt ohnehin ihren Aufgaben nach. Das hat auch ein hohes Maß an Widerstandskraft in der Bevölkerung zutage gefördert. In der kurdischen Bevölkerung und unter den kurdischen Frauen hat sich ein entsprechendes Bewusstsein herausgebildet. Dieser Kampf ist der Freiheitskampf der Bevölkerung. Die Guerilla ist eine Seite davon. Aber den Kampf als ausschließlich auf die Guerilla beschränkt zu betrachten, würde bedeuten, selbst ohne Verteidigung zu bleiben. Deshalb darf nicht davon die Rede sein, den Kampf der Guerilla lediglich zu unterstützen. Die Idee von ‚unterstützen, im Hintergrund bleiben, helfen‘ ist falsch. Die Guerilla verteidigt Kurdistan, sie verteidigt die Freiheit und kämpft gegen Besatzung und Faschismus. Das sind Pflichten, derer sich alle annehmen müssen. Dieser Widerstand ist ein Widerstand des Volkes. Unser Volk ist kein Unterstützer, es kämpft selbst. Es ist selbst im Widerstand. Wir müssen unserem Gegner mit dem Mittel des revolutionären Volkskrieges antworten. Wer meint, ohne Widerstand und durch Stillhalten leben zu können, der irrt sich. Ohne Freiheit gibt es kein Leben. Für das gesellschaftliche Standbein des revolutionären Volkskriegs ist es notwendig, eine stärkere Haltung zu entwickeln. Vor allem die Jugend muss ihrer Vorreiterrolle gerecht werden.
Der Kampf der PKK und PAJK hat das Regime an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Die, die in den Medien jeden Tag aufs neue sagen: ‚Es ist vorbei, es geht vorbei‘, haben nichts aus der Geschichte gelernt. Dieser Freiheitskampf hat schon viele Regierungen gestürzt. Diese Bewegung ist gleichzeitig eine Identität. In der PKK zeigt sich der Traum von Freiheit, das Erlangen einer Identität und der Eintritt in den Widerstand. Es ist der würdevolle Kampf einer Gesellschaft gegen Sklaverei, Erniedrigung und Unterdrückung. Das kann niemand aufhalten.
Die Guerilla wird den Besatzern keinen Raum überlassen. Dieser Widerstand wird das Ende des AKP/MHP-Regimes zur Folge haben. Ein halbes Jahrhundert kämpfen wir schon gegen dieses barbarische genozidale System. Wir arbeiten an der Verteidigung unseres Landes und unserer Bevölkerung und am Aufbau der Grundlagen eines freien Lebens.