Im zweiten Teil des Interviews mit ANF äußert sich der Oberkommandierende des zentralen Hauptquartierts der Volksverteidigungskräfte (NPG), Murat Karayilan, zur Isolation des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali und warum diese Praxis des türkischen Staates als Herrschaftstechnik auf alle gesellschaftlichen Bereiche keine Chance hat.
Die Isolation von Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali dauert in verschärfter Form an. Viele Seiten betrachten das dortige Isolationssystem als festes Handlungsmuster, das die Politik bestimmt und die Gesellschaft als Ganzes zu unterwerfen versucht. Derweil erhält die internationale Kampagne für die Freiheit Abdullah Öcalans und eine politische Lösung der kurdischen Frage immer mehr Zulauf. Was können Sie über die Isolationspolitik und den Widerstand dagegen sagen?
Imrali ist das Koordinierungszentrum des genozidal motivierten Krieges in Kurdistan. Dort wird ein beispielloses Folterregime umgesetzt, das auf dem rechtswidrigen Vorgehen nicht nur der türkischen Justiz, sondern auch des internationalen Rechtssystems basiert. In Zeiten einer noch nie dagewesenen Vielfalt an Kommunikationsmitteln herrscht auf der Insel totale Funkstille. Diese absolute Isolation und die damit einhergehende psychische Folter bildet die Grundlage für die Politik des Völkermords. Mit dieser Praxis will der Staat die Hoffnungen des kurdischen Volkes brechen, es dazu bringen, Rêber Apo zu vergessen, ihn von der Gesellschaft und der Welt isolieren, Druck auf die Menschen ausüben und der Guerilla den totalen Vernichtungskrieg auferlegen, um Rêber Apo letztlich zurückweichen zu lassen. Der herrschende Machtblock beharrt auf der Isolation als Vernichtungskonzept und will auf diese Weise als Sieger aus dem Krieg hervorgehen. Doch die Haltung, die Rêber Apo mit großer Kraft, Geduld und Unnachgiebigkeit bis heute an den Tag legt, und der Widerstand, den er gemeinsam mit seinen Mitgefangenen gegen die Praxis der Isolation zeigt, machen die Vernichtungsstrategie völlig unwirksam.
Sie wollen Rêber Apo durch Isolation vereinsamen lassen. Sie wollen ihn von der Gesellschaft und der Welt separieren. Aber die Kraft Rêber Apos hat die Mauern von Imrali zum Einsturz gebracht und wirkt nicht nur in Kurdistan und im Nahen Osten, sondern entfaltet sich überall auf der Welt. Schon längst gilt Öcalan nicht mehr nur als Repräsentant des kurdischen Volkes. Auch arabische Nationen, die Suryoye und andere unterdrückten Völker identifizieren sich mit Rêber Apo und seinen Ideen. Diese Realität, im Widerstand gegen die kapitalistische Moderne der Kopf der demokratischen Moderne zu sein, ist vor allem in der gegenwärtigen Phase zu Tage getreten. Wir haben gesehen, dass die Kampagne für die Freiheit von Rêber Apo und die Lösung der kurdischen Frage zeitgleich an über hundert Orten weltweit mit der Unterstützung von internationalen Organisationen und Einzelpersonen gestartet wurde. Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sich seine Gedanken über die Grenzen Kurdistans hinaus auf der ganzen Welt ausgebreitet haben und seine Person von universeller Bedeutung ist. Rêber Apo ist ein Philosoph der Gegenwart. Die Isolation des kolonialistischen Regimes hat dies nicht verhindern können. Das ist eine Tatsache, die sich nicht leugnen lässt.
Die sogenannte Isolationspolitik in Imrali ist im Grunde eine Politik, die demokratische Werte mit Füßen tritt und den Rahmen für den Aufbau eines faschistischen Regimes in der Türkei bildet. Es ist nicht möglich, dass Demokratie in der Türkei Einzug hält, ohne dass die Isolation aufgehoben wird. Mit anderen Worten, nicht nur wir, sondern auch viele andere Intellektuelle, Kunstschaffende, wissenschaftlich Publizierende – also Menschen, die die Realitäten erkennen, stellen fest, dass das Imrali-System nicht nur die Isolation Rêber Apos bedeutet, sondern in Wirklichkeit das gesamte kurdische Volk und auch die Demokratie in der Türkei in den Klammergriff der Separation nimmt. Das betont auch ein Appell von 564 Persönlichkeiten aus der Kunst- und Kulturszene in der Türkei, die Verhandlungen über eine Lösung der kurdischen Frage fordern. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass selbst die barbarischsten Methoden des AKP/MHP-Faschismus gegenüber Rêber Apo und die Politik dieses Regimes, das Recht mit Füßen zu treten, bis heute keine Früchte getragen haben.
Der türkische Staat hat in der letzten Zeit seine ohnehin seit Jahren andauernden Angriffe gegen das kurdische Volk, seine Unterdrückung und den politischen Vernichtungsfeldzug weiter verschärft. Der Widerstand der Kurdinnen und Kurden gegen den Versuch, ihren Willen zu brechen, ist groß. Kann der türkische Staat mit diesen Handlungen etwas erreichen?
Das Konzept direkter Angriffe auf das kurdische Volk stellt seit jeher ein Handlungsfeld des faschistischen Regimes der Türkei dar, effektive Ergebnisse zu erzielen. Den Kampf der Kurdinnen und Kurden für Demokratie und ihr Nationalbewusstsein zu liquidieren, hat oberste Priorität. Im Laufe der Jahre wurden die Formen der Vernichtung systematisiert und im Wechsel von verschiedenen Methoden gestaltet. Mal sind es Massaker, mal facettenreiche Repressionsmittel, mal Folter, die zur Zerschlagung der kurdisch-demokratischen Politik, aber auch der türkischen Kräfte aus dem linken und sozialistischen Spektrum eingesetzt werden. Wir müssen uns nur ins Gedächtnis rufen, dass Ko-Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Parlamentsabgeordnete und Parteivorsitzende ohne rechtliche Grundlage verhaftet worden sind. Viele von ihnen befinden sich bis heute hinter Gittern. Dieses System wird mit der Politik der Zwangsverwaltung durchgesetzt. Es ist eine Putschmentalität, die sich gegen den Willen des Volkes richtet. Doch selbst diese Methodik versagt und bewirkt Gegenteiliges, sobald sie auf das kurdische Volk trifft. Ein konkretes Beispiel dafür, dass niemand von diesem Staat dazu bewegt werden kann, auch nur einen Schritt zurückzusetzen, ist der sogenannte Kobanê-Prozess. Handelnde und Aktive der kurdischen Politik, Frauen, Mütter und die Jugend legten einen unbestritten großen Widerstand an den Tag. Sie wissen nur zu gut, mit jeder Art von Repression umzugehen und dagegen zu halten – und den Staat zum Verlierer zu degradieren.
Wenn ich all diese Punkte kurz zusammenfasse, kann ich sagen, dass sich das Scheitern der Vernichtungsstrategie in der historisch bedeutsamen Haltung von Rêber Apo, dem aufopferungsvollen Widerstand unserer Bewegung und der Guerilla Kurdistans, im selbstlosen Einsatz der demokratischen Institutionen unseres Volkes und in der Ankara-Aktion unserer Kräfte verdeutlicht hat. Es ist nicht möglich, dass diese Politik des Völkermordes in Kurdistan zu Ergebnissen führt. Das AKP/MHP-Regime hat seine ganze Macht eingesetzt. Aber die Realität des Willens, sich dagegen zu wehren, ist offensichtlich. Es gibt nur einen Weg, nämlich den, diese genozidal motivierte Politik aufzugeben.
Obwohl die Ideologie und die Forderungen Ihrer Bewegung klar definiert sind, stuft die Spezialkriegspresse Sie weiterhin in die Kategorie der Separatisten ein, die einen unabhängigen Staat gründen wollten, aber letztlich daran gehindert wurden. Warum greift man zu dieser Art von Propaganda? Was hat es damit auf sich?
Wir sind eine Bewegung mit einer Ideologie und Philosophie, die sich vom Staat klar abgrenzt und dieses System zu überwinden versucht. Denn solange nationalstaatliche Systeme bestehen, wird es nicht möglich sein, die Gleichungen zwischen den Polen der Ordnung, der Gleichheit, der Freiheit und des gerechten Teilens zu entwickeln, geschweige denn zu bewahren. Wir verteidigen ein Modell, in dem sich Menschen als Strategie zur Überwindung des Kapitalismus klassenübergreifend gegen den Staat wenden. Trotzdem wendet dieses Regime die ganze Energie der Türkei im Krieg gegen unsere Bewegung und unser Volk auf, indem mit falschen Szenarien vom „unabhängigen Kurdistan“ und der sogenannten Existenzfrage, die sich dadurch für den türkischen Staat aufdränge, Stimmung gemacht wird. Das Regime macht keinen Hehl aus seinem Ziel, die Grenzen des Misak-ı Millî [Nationalpakt] wieder zu beherrschen. Die Kurdinnen und Kurden sind ein Hindernis vor diesem Ziel, deshalb sollen sie willensschwach gemacht und am besten einem Genozid ausgesetzt werden.
Dabei zeichnete dieser Pakt die gemeinsamen Grenzen von Türk:innnn und Kurd:innen. Die herrschende faschistische Mentalität möchte den Misak-ı Millî jedoch als einzige beanspruchen, also frei von Kurd:innen. Auf diese Weise will sie wachsen. Einen solchen Wachstum wird es aber nicht geben. Dieser Staat ist noch nicht einmal in der Lage, die Vergangenheit zu betrachten und aus ihr zu lernen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Turk-Staaten seit den Seldschuken ohne die Kurd:innen nicht in der Lage waren, ihre Macht aufrecht zu halten. Selbst die Besiedlung Anatoliens wurde mit kurdischer Unterstützung erreicht. Sie feiern den Jahrestag der Schlacht von Malazgirt im Jahr 1071, aber sie feiern ihn auf eine verzerrte Weise. Sie ignorieren die Rolle, die die Kurd:innen dort gespielt haben.
Rêber Apo hatte seinerzeit offenbart, dass die Türkei auf der Grundlage eines kurdisch-türkischen Bündnisses ein demokratischer Leuchtturm in der gesamten Nahostregion werden könnte und eine Vorreiterrolle spielen würde. Dafür hatte er große Anstrengungen unternommen, wie seine Eingaben und Erklärungen zeigten. Wenn die AKP ihm Gehör geschenkt hätte, wäre die Türkei jetzt nicht in der Lage, in der sie nun ist. Die Bevölkerung würde sich nicht vor Hunger winden, im Gegenteil. Es wäre ein hohes Maß an Wohlstand und Demokratisierung erreicht worden. Aber diese faschistische Mentalität hat Rêber Apos Worte ignoriert. Sie dachten, sie könnten mit Gewalt Ergebnisse erzielen, indem sie ihn beiseiteschoben und den Dolmabahçe-Konsens leugneten. Die vergangenen neun Jahre des Kampfes haben gezeigt, dass es ihnen nicht möglich ist, Erfolge zu verbuchen. Es war und wird nicht möglich sein, den Willen eines Volkes zu zerstören.
Das Interview wurde für die deutsche Fassung gekürzt und redigiert. Nächster Teil: Verheimlichte Verluste im Krieg, die Kollaboration der PDK, die Strategie der Guerilla.