Die Revolution in Rojava ist weltweit als Revolution der Frau bekannt geworden. Es handelt sich um einen Aufbruch, in dem das Paradigma der Frauenbefreiung zum Hauptwiderspruch gemacht wurde, und durch den die Position und die Rolle der Frau in Nord- und Ostsyrien grundlegend verändert wurde. Die Region Nord- und Ostsyrien und damit auch ihre Errungenschaften stehen aber im Fokus der mit internationaler Billigung stattfindenden völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei. Immer wieder werden insbesondere Vertreterinnen der Frauenbewegung von türkischen Drohnen oder dschihadistischen Killerkommandos ins Visier genommen. Die Deutschland-Vertretung der Selbstverwaltung warnt aus Anlass des 8. März, dass die türkische Aggression gegen Nord- und Ostsyrien die Frauenbewegung aktiv bedroht. „Die türkische Regierung bedient sich genau derselben Methoden wie der IS, um unseren Widerstand zu brechen“, sagt die Ko-Vertreterin Viyan Toubal.
„Vier Jahre vernichtende Angriffe auf die Revolution“
„Weltweit gehen Frauen auf die Straße, um weiterhin auf Missstände, Ungleichbehandlung, sexuelle Belästigung und Femizide aufmerksam zu machen, mit dem Ziel patriarchalische Strukturen und Denkweisen vollständig zu eliminieren. Während sich Frauen also weiterhin für Gleichheit und Emanzipation in allen politischen und sozialen Belangen einsetzen, erlebt die Autonomieregion im Nord- und Ostsyriens gerade das vierte Jahr des vernichtenden Angriffs auf die revolutionären Strukturen vor Ort, in Form von gezielten und systematischen Bombardements durch die türkische Luftwaffe.
Die Revolution im Nordosten Syriens begann am 19. Juli 2012 inmitten des syrischen Bürgerkrieges. Was zunächst nach einer politischen Autonomiebestrebung der kurdischen Bevölkerung Syriens aussah, welche jahrelang Assimilation und Diskriminierung ausgesetzt war, ist in der Realität ein politisches Projekt, welches jenseits ethnischer und religiöser Spaltungen einen radikalen gesellschaftlichen Wandel anstrebt und in erster Linie von Frauen angeführt wird.
Denn neben der Etablierung eines alternativen, dezentralen politischen Systems, hat sich die Revolution in Nordostsyrien dem Ziel der Verteidigung der Frauenrechte verschrieben und wird offiziell als „Revolution der Frau“ betitelt, mit dem Ziel die politische Partizipation und Repräsentation von Frauen auf allen Ebenen konstitutionell zu manifestieren. So schreibt die hiesige Verfassung eine gemeinsame Präsidentschaft in allen wichtigen Führungspositionen mit einer Frau sowie eine bindende Frauenquote von 50% für sämtliche Stadtteil-, Stadt- und Kantonsräte vor. Neben der politischen Institutionalisierung der Frauenbeteiligung, was ebenfalls die Schaffung eines separaten Frauenministeriums miteinschließt, wurde zudem auch die Verteidigung der Frauenrechte auf lokaler, gesellschaftlicher Ebene durch die Schaffung zahlreicher Frauenorganisationen- und Häuser anvisiert.
„Misogyne Strukturen in der Gesellschaft sollen eliminiert werden“
Doch die Frauen in Nord- und Ostsyrien begnügen sich nicht nur mit ihrer Repräsentation und Mitsprache auf politischer und gesellschaftlicher Ebene. Hinter dem Kernkonzept der Revolution steckt vielmehr der essentielle Gedanke, misogyne Strukturen innerhalb der Gesellschaft zu eliminieren und die Wurzeln patriarchaler Denkmuster durch ein Umdenken der Gesellschaft durch Bildung und Aufklärung ein für alle Mal zu beseitigen. So wird an zahlreichen Akademien und Bildungseinrichtungen für Männer und Frauen „Jineoloji“, übersetzt „Wissenschaft der Frau“ unterrichtet und die individuelle Freiheit der Frau als unabdingbare Voraussetzung für die Freiheit der gesamten Gesellschaft betrachtet.
„Selbstverwaltung durch türkische Angriffe akut bedroht“
Bildung und gesellschaftliche Sensibilisierung sind hierbei die Hauptpfeiler der Revolution und des gesellschaftlichen Projektes der Autonomieverwaltung, die aktuell jedoch aufgrund der vermehrten Angriffe der türkischen Luftwaffe in die Brüche zu gehen droht. Die Bilder zahlreicher YPJ-Kämpferinnen im Kampf gegen den IS, die 2014 um die gesamte Welt kursierten, zeigte die unmittelbare Bedrohung, der Frauen mit dem Erstarken des IS ausgesetzt waren. Jetzt drohen den föderalen Strukturen in Nord- und Ostsyrien jedoch noch einmal Zerstörung und Destabilisierung durch den ungehemmten Angriff des NATO-Staates Türkei, der bislang keinerlei internationale Gegenreaktion hervorgerufen hat.
Seit der völkerrechtswidrigen Okkupation der Region Efrîn im Jahre 2018 kommt es immer wieder zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und intensiven Bombardements der Region, denen größtenteils Zivilist:innen zum Opfer fallen. Erst kürzlich wurden bei einem Drohnenangriff in der ethnisch heterogenen Stadt Qamişlo vier junge Frauen schwer verwundet.
Auch das ökologische Frauendorf Jinwar in der Nähe der türkischen Grenze, wo Frauen selbstbestimmt nach den Prinzipien der Emanzipation und Gleichberechtigung miteinander leben, ist seit Beginn der türkischen Luftschläge ernsthaft bedroht. Im Jahre 2019 machte zudem der brutale Mord an der syrisch-kurdischen Politikerin und Frauenaktivistin Hevrîn Xelef durch Söldner einer islamistischen, von der Türkei unterstützen Miliz Schlagzeilen.
Für die Frauen vor Ort, welche sich voll und ganz der Revolution verschrieben haben, ist das Schweigen des Westens und die allgegenwärtige Bedrohung des hiesigen Autonomieprojektes ein Angriff auf das friedliche Zusammenleben verschiedenster ethnische und religiöser Gruppierungen im Nord- und Ostsyriens und lässt Erinnerungen an die brutalen Verbrechen, die damals durch den IS verübt worden waren, wieder aufflammen.“
Viyan Toubal: Türkei bedient sich an IS-Methoden
Viyan Toubal, die Ko-Vertreterin der Selbstverwaltung in Berlin, ergänzt: „Die türkische Regierung bedient sich genau derselben Methoden wie der IS, um unseren Widerstand zu brechen. Ein Angriff auf unsere Revolution ist auch ein Angriff auf uns Frauen. Doch trotz des evidenten Völkerrechtsbruchs gibt es bislang keinen politischen Aufschrei der internationalen Staatengemeinschaft. Und so liegt es wieder einmal an uns Frauen hier und vor Ort, die Revolution gegen externe Bedrohungen zu verteidigen”.