In einem Interview mit dem in Südkurdistan ansässigen Fernsehsender Channel 8 hat Murat Karayılan, Mitglied des Exekutivkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Bedingungen für einen möglichen Friedensprozess mit der Türkei formuliert. Eine Entwaffnung und Auflösung der Organisation, wie es Abdullah Öcalan in seinem historischen Aufruf formuliert hat, sei nur möglich, wenn der türkische Staat die kollektiven Rechte des kurdischen Volkes anerkennt, betonte Karayılan. Die Initiative müsse zudem unter der direkten Führung von Öcalan stehen, der seit 1999 inhaftierte Gründer der PKK.
Kritik an türkischer Regierung
„Dieser Prozess hat für uns einen nationalen Charakter“, sagte Karayılan mit Blick auf Öcalans Aufruf und eine mögliche Lösung der kurdischen Frage. „Alle Kurd:innen sollten ihn unterstützen.“ Öcalan wolle einen tiefgreifenden Wandel einleiten – sowohl für die Türkei als auch für die gesamte Region. Der türkischen Regierung warf Karayılan allerdings vor, widersprüchliche Signale zu senden. Während Politiker wie MHP-Chef Devlet Bahçeli Gesprächsbereitschaft zeigten, würden andere den Prozess durch „sabotierende Rhetorik“ unterminieren. Beim Verteidigungsminister Yaşar Güler etwa gehe es ausschließlich um die Verleugnung der kurdischen Frage und eine bedingungslose Kapitulation der PKK. „Seine Aussagen als verantwortlicher Kriegstreiber sind gezielt darauf ausgelegt, den Prozess zu sabotieren. Er verbreitet Falschinformationen – sowohl gegenüber der Öffentlichkeit als auch möglicherweise gegenüber der Staatsführung“, so Karayılan.
Yaşar Güler sabotiert den Prozess
„Güler täuscht die türkische Öffentlichkeit und vermutlich auch die Regierung. Die Realität des Krieges sieht ganz anders aus“, so Karayılan weiter. „Niemand wird sich einfach ergeben, wie er es behauptet. Jedes Mitglied dieser Bewegung ist ein heldenhafter Mensch, der bereit ist, sein Leben für Ehre und Würde zu geben. Wir sind Menschen, die sich aufopfern. Niemand wird sich ihnen ergeben. Solche Aussagen sind Provokationen und sabotieren den Friedensprozess.“
Türkei ist Hauptakteur des Terrors
„Wir hören ständig das Gerede einer ‚terrorfreien Türkei‘. Wenn wir aber vom Begriff Terror sprechen, sollten wir uns daran erinnern, dass dieser nie einseitig ist“, so Karayılan weiter. „Darüber hinaus ist festzuhalten, dass in der Türkei der Staat der Hauptakteur von Terror ist.“ Als Beispiel nannte er die Geschehnisse in den „Todeskellern von Cizîr“. Dieser Ausdruck steht für Massaker, die das türkische Militär im Februar 2016 in der kurdischen Kreisstadt Cizîr (tr. Cizre) verübte – in Wohngebäuden, in denen etliche Menschen während einer Militärbelagerung Schutz suchten. Einige von ihnen verbrannten am lebendigen Leib, nachdem die Armee Benzin in die mit Menschen gefüllten Keller leitete. Andere Gebäude wurden von türkischen Truppen erstürmt und die Anwesenden erschossen. „Das war Terrorismus“, betonte Karayılan.
Wir verfolgen einen strategischen Ansatz
Karayılan rief dazu auf, eine neue Phase des Dialogs und Denkens einzuleiten. „Wir nähern uns diesem Prozess strategisch. Öcalan tut das auch – und wir stehen hinter ihm. Aber damit sich der Prozess weiterentwickeln kann, muss auch die andere Seite sich verändern.“ Es gebe Anzeichen für Wandel, etwa bei Devlet Bahçeli, räumte Karayılan ein. „Doch bei jemandem wie Yaşar Güler ist keinerlei Veränderung zu erkennen. Von Frieden, von einer Annäherung der Völker ist bei ihm keine Spur. Diese Haltung erschwert den Prozess nur weiter und wirkt destruktiv. Aber wir schenken dem nicht allzu viel Bedeutung. Uns interessiert die Haltung der wirklich verantwortlichen Entscheidungsträger – nicht die von Einzelpersonen.“
Wenn nötig, könnten wir Ankara treffen
Mit Blick auf die Entwicklung der militärischen Fähigkeiten der PKK-Guerilla sagte Karayılan: „Wir sind eine Kraft, wir haben einen eigenen Willen – wir sind keine einfache oder gewöhnliche Bewegung. Wir verfügen inzwischen über Techniken, um sowohl von innen als auch von außen effektive Schläge zu versetzen.“ Er erinnerte daran, dass die Guerilla bereits einige Dutzend Kampfdrohnen der türkischen Armee abgeschossen hat. „Vielleicht weiß es nicht jeder, aber unsere Guerilla ist heute in der Lage, Luftangriffe bis nach Ankara durchzuführen, wenn es die Situation erfordert. Auch die Guerilla selbst hat einen Wandel durchgemacht – sie ist Teil dieses neuen Prozesses. Sie wurde nicht, wie behauptet, zerschlagen – im Gegenteil, sie ist bereit“, so Karayılan.
Gleichgewicht mit dem türkischen Staat erreicht
Karayılan berichtete über die jährliche Sitzung der Kommandoräte der Volksverteidigungskräfte (HPG) und Verbände freier Frauen (YJA Star), die diesmal nicht medial verbreitet wurde. „Wir wollten den Friedensprozess unter der Leitung Rêber Apos nicht gefährden. Deshalb haben wir uns entschieden, die Sitzung nicht öffentlich zu machen – das teile ich hiermit erstmals mit.“
Im Rahmen des Treffens seien die bisherigen Erfahrungen und Entwicklungen analysiert worden. „Auf Grundlage der eingereichten Berichte und der Diskussionen haben wir eine neue Kriegsdoktrin beschlossen“, erklärte Karayılan. „Der Krieg wurde in der Vergangenheit sowohl über als auch unter der Erde geführt – und in den letzten Jahren zunehmend auch aus der Luft. Wir verfügen jetzt über die Fähigkeit, all diese Dimensionen professionell zu bedienen. Damit haben wir ein Gleichgewicht gegenüber dem türkischen Staat erreicht. Unsere neue Kriegsdoktrin basiert genau darauf – und wir glauben an unseren Sieg.“
Diese Entscheidungen seien bereits im Januar – also noch vor Öcalans Friedensaufruf – getroffen worden. Karayılan betonte: „Als Guerilla sind wir bereit für den neuen Prozess, wie ihn Öcalan formuliert hat – aber wir sind ebenso auf Krieg vorbereitet. Das sollte jeder wissen. Das ist die Realität.“
Einseitige Waffenruhe, Forderung nach Gegenschritten
Im Hinblick auf den von der PKK am 1. März einseitig ausgerufenen Waffenstillstand mit der Türkei sagte Karayılan, dass nun Ankara am Zug sei. „Der Ball liegt im Feld des türkischen Staates“, sagte er und ergänzte. „Ohne beidseitige Schritte kann dieser Prozess nicht funktionieren.“ Entscheidend sei dabei die aktive Einbindung Öcalans. „Er muss kommunizieren, Delegationen empfangen und entsenden können. Nur dann ist eine glaubwürdige Umsetzung möglich.“
Kongressentscheidung notwendig
Dies sei auch für eine endgültige Entscheidung über die Niederlegung der Waffen und einer Auflösung der PKK nötig, die laut Karayılan ohne einen ordentlichen Kongress nicht getroffen werden könne. „Ein solcher Beschluss muss breit abgestützt und innerorganisatorisch legitimiert sein.“ Die türkische Seite dränge darauf, sofort einen Termin für den Kongress festzulegen. Karayılan wies das zurück: „Ohne geeignete Bedingungen und ohne Einbindung aller relevanten Akteure ist das nicht umsetzbar.“
Frieden braucht Anerkennung der kurdischen Identität
Zentral für Karayılan ist jedoch die gesellschaftliche und politische Anerkennung der kurdischen Identität in der Türkei. „Wenn die Türkei echten Frieden will, muss sie die kulturellen und politischen Rechte der Kurd:innen anerkennen – sonst bleibt der Konflikt bestehen.“ Ein Waffenverzicht ohne solche Zugeständnisse berge Gefahren – nicht nur für die Kurd:innen in der Türkei, sondern auch für andere Teile Kurdistans, etwa im Irak oder Syrien.
Ein Nationaler Prozess
„Der türkische Staat versucht, verschiedene kurdische Akteur:innen gegeneinander auszuspielen“, sagte Karayılan außerdem in Anspielung auf die Kurdistan-Region des Irak (KRI) beziehungsweise Südkurdistan. „Doch eine wirkliche Freundschaft mit dem kurdischen Volk entsteht nur, wenn der türkische Staat seine Haltung gegenüber den Kurd:innen im eigenen Land ändert.“ Karayılan schloss mit einem Appell an alle kurdischen Kräfte: „Dies ist ein nationaler Prozess. Wer Frieden und Demokratie will, muss ihn unterstützen – ohne Illusionen, aber mit Entschlossenheit.“