Noch nicht einmal zwölf Stunden nach dem Anschlag in Istanbul präsentiert Erdogans Staatspresse die Ergebnisse der „Ermittlungen“. Eine 23-jährige Frau mit gebeugtem Rücken wird gezeigt, im Gesicht Spuren von Folter, die Hände gefesselt, der Rücken gebeugt, eingerahmt von zwei riesigen türkischen Fahnen. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „New York“. Ihr Name sei Ahlam Albashır, eine syrische Staatsbürgerin, wird verkündet. 46 weitere Menschen habe man festgenommen. Das Regime feiert den schnellen „Fahndungserfolg“.
Dann kommt die große Stunde des Innenministers Süleyman Soylu, der mit folgender Geschichte aufwartet: Albashır habe gestanden „im Auftrag“ der „PKK/YPG/PYD“ und „als Kurdin getarnt“ gehandelt zu haben. Sie sei eine „für Spezialeinsätze ausgebildete Attentäterin“, die illegal über Efrîn und Idlib im Nordwesten von Syrien eingereist ist. Ihren Befehl zum Anschlag habe sie aus Kobanê bekommen. Nach der Tat plante sie, nach Griechenland in das „Terrorlager“ Lavrio zu fliehen.
In diese bizarre Geschichte eingewoben sind die Schlagworte, die das AKP/MHP-Regime benutzt, um der Bevölkerung klar zu machen, wer „der Feind“ ist: Die PKK – na klar! Die YPG/PYD, die man zu gerne endgültig auslöschen will. Die Aufschrift „New-York“ auf dem T-Shirt weist auf die USA, die den Angriff auf die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien bisher verhinderte und sich ziert, begehrte Waffensysteme zu liefern. Griechenland mit seinen „Terrorhotspots“ als Fluchtziel. Eine geflüchtete Syrierin, getarnt als Kurdin, bedient alle rassistischen Klischees. Dass es sich um eine junge Frau handelt, die als „Täterin“ präsentiert wird, dürfte den im türkischen Chauvinismus angelegten Frauenhass weiter befeuern. Neben FETÖ fehlt eigentlich nur noch ein schwedisch/finnisches Schleifchen, um auch die Nordländer in dieser Inszenierung unterzubringen. Deren NATO-Beitritt wird bislang von der Türkei blockiert, weil man auch ihnen vorwirft, zu sanft mit „Terroristen“ umzugehen.
Wie nicht anderes zu erwarten, übernahmen die hiesigen Medien zunächst diese Erzählung. Ohne nachzufragen, schrieb man die Verlautbarungen der türkischen Staatspresse ab. Fast konnte ein Aufatmen herausgelesen werden, war es doch das Wochenende, an dem große Demonstrationen gegen die türkischen Angriffe mit Chemiewaffen auf Stellungen der PKK stattfanden mit der Aufforderung, endlich das Schweigen zu diesen Kriegsverbrechen zu beenden. Wenn die PKK nun als Drahtzieherin des Istanbuler Anschlags hingestellt wird, erübrige sich eine Positionierung. Wieder mal sei dann bestätigt, was man schon immer zu wissen glaubte: PKK = Terror.
Einen Tag später tauchten in den sozialen Medien die ersten Fragen auf. Angriffe auf Zivilisten? Das passe einfach nicht zur PKK. Wie kann Albashır über Efrîn und Idlib in die Türkei gelangen, sind diese Gebiete doch unter türkisch-dschihadistischer Kontrolle und umgeben von einer Grenzmauer, um flüchtende Syrer aus der Türkei fernzuhalten? Dem Aussehen nach komme die junge Frau eher aus Nordafrika. In Kobanê kenne sie niemand. Warum kehrt sie nach dem Anschlag in ihre Wohnung zurück und wartet auf ihre Festnahme? Und wo bleibt ein Bekennerschreiben?
Unterdessen reagierte die kurdische Bewegung mit Dementis und Kondolenzen: Das Hauptquartier der Volksverteidigungskräfte der PKK teilte mit, dass „für uns Angriffe auf die Zivilbevölkerung in der Türkei in keinem Fall in Frage kommen.“ Auch die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der PYD-Vorsitzende Salih Muslim verurteilten den Anschlag und sprachen den Opfern und ihren Angehörigen ihr Beileid aus. Der Terroranschlag in Istanbul sei ein Komplott des AKP/MHP-Regimes, um die kurdische Bewegung zu diskreditieren und einen Angriff auf Rojava vorzubereiten.
Zeitgleich kursieren im Netz weitere Gerüchte, Details und Hintergründe: Die vermeintliche Attentäterin soll aus Somalia stammen. Sofort wird auf Twitter gefragt: Ist die PKK jetzt auch in Somalia präsent? Ein nicht-verifiziertes Video taucht auf, in dem eine angebliche Schwester von Albashır meint, niemand dort habe Verbindung zur PKK. Von einem Foto ist die Rede, das Albashır vor Fahnen der Sultan-Murad-Brigade zeigt. Dann wird von Telefonmitschnitten zwischen Albashır und dem Bezirksvorsitzenden der MHP in Şirnex-Basa, Mehmet Emin Ilhan, berichtet. Der wiederum nennt dies einen „Streich“, als er dazu vernommen wurde. Zeugenaussagen von Nachbarn, Videos von Überwachungskameras, weitere Spekulationen machen die Runde.
Derweil konstruiert Erdogan eine Mitschuld des Westens und beklagt wieder einmal die Unterstützung der USA für „Terrororganisationen“ (damit meint er die YPG). Innenminister Soylu weigert sich, die Kondolenz durch die US-Botschaft anzunehmen, was als grober Affront betrachtet wird.
Mittlerweile zweifeln auch immer mehr westliche Medien an dem Narrativ, das in Ankara aufgetischt wurde. Die häufigsten Interpretationen: Es war eine False Flag Operation des türkischen Geheimdienstes, die einen Vorwand für den Angriff auf Rojava liefern soll. Zudem wolle Erdogan durch diese Tat die Wahl im nächsten Jahr für sich beeinflussen, von der desaströsen wirtschaftlichen Situation im Land ablenken und den Rassismus gegen Migrant:innen weiter anfachen, um sich mit hartem Durchgreifen als „starker Mann“ zu präsentieren. Auch die kurdische Parole „Jin, Jiyan, Azadî" – „Frau, Leben, Freiheit", die durch die Revolution im Iran weltweit verbreitet wurde, dürfte ihn stören.
Angesichts der vielen Ungereimtheiten gehen viele Analyst:innen mittlerweile davon aus, dass das Attentat inszeniert und eine junge Frau für ein schmutziges Spiel benutzt wurde. Ob sich das AKP/MHP-Regime damit einen Gefallen getan hat, mag dahin gestellt sein.