WDR: Der Krieg in Efrîn ist längst nicht vorbei

Der Krieg in Efrîn ist längst nicht vorbei, sondern hat mit der Besatzung erst angefangen. Er ist Teil des weltweiten patriarchalen Herrschaftssystems, in dem Nationalstaaten wie die Türkei Kriege um geopolitische Machtinteressen und Ressourcen führen.

Mit den Herzen in Afrin sind vor vier Jahren tausende Menschen weltweit auf die Straße gegangen und haben lautstark ihren Widerstand gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei auf die Straße getragen. Am 20. Januar 2018 begann der türkische Angriffskrieg auf die Region Afrin, den westlichen Kanton der Selbstveraltung Nord- und Ostsyriens. Tag und Nacht wurden die Städte und Dörfer, Flüchtlingscamps und historischen Stätten von türkischen Kampfflugzeugen und Artillerie bombardiert. Der Angriff seitens der Türkei und seiner dschihadistischen Milizen dauerte bis zum 18. März an. Hunderte ZivilistInnen wurden im Zuge dieses Krieges ermordet und viele weitere hunderte verletzt. Hunderttausende Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben und waren gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Seitdem befindet sich Afrin unter türkischer Besatzung und jegliche zuvor aufgebauten Errungenschaften der Selbstorganisierung der Menschen vor Ort wurden zunichtegemacht. Die Vielfalt der verschiedenen dort lebenden Bevölkerungsgruppen findet keinen Ausdruck mehr und die erkämpften Frauenrechte wurden faktisch unter der türkischen Besatzung abgeschafft. Leerstehende Häuser vertriebener Familien wurden vom türkischen Militär unter anderem an Familien islamistischer Kämpfer übergeben. Es wurden neue Verwaltungszentren eingerichtet, die der türkischen Kontrolle unterliegen und Teil des demografischen Wandels in der Region sind. Gleichzeitig war die türkische Invasion eine Ermutigung für den IS, sich zu reorganisieren.

Der Krieg in Afrin ist längst nicht vorbei, sondern hat mit der Besatzung erst angefangen. Fast täglich gibt es Gefechte und Explosionen, die zu einer Vielzahl an zivilen Opfern führen. Durch Verhaftungen, Entführungen, Geiselnahmen mit hohen Lösegeldforderungen sowie Ermordungen und Folter wurde ein autoritäres Regime unter türkischer Besatzung etabliert, das Angst und Schrecken verbreitet und zu einem Zufluchtsort für IS-Mitglieder und andere Dschihadisten geworden ist. Für Frauen gestaltet sich das Leben dort wie ein Gefängnis, denn viele verlassen das Haus nicht mehr aus Angst vor der alltäglichen Gewalt. Zwangsverheiratung, sexuelle Gewalt, Folter, Ermordung und hunderte Frauen, die von türkisch unterstützten bewaffneten Gruppen entführt wurden, gehören zur tagtäglichen Realität, mit der die Frauen und Mädchen dort konfrontiert sind.

Mittlerweile sind vier Jahre vergangen und wir erkennen, dass der Krieg in Afrin längst nicht vorbei ist, sondern mit der Besatzung erst angefangen hat. Er ist Teil des weltweiten patriarchalen Herrschaftssystems, in dem Nationalstaaten wie die Türkei Kriege um geopolitische Machtinteressen und Ressourcen führen. Wir erkennen in ihm einen weiteren Feminizid, denn die Unterwerfung, Vergewaltigung und Ermordung von Frauen ist stets ein zentraler Bestandteil der Eroberung eines Landes und einer Gesellschaft. Es ist ein Krieg gegen eine gesellschaftliche Alternative abseits von Nationalstaat und Patriarchat, die sich auf Grundlage der Befreiung der Frau, demokratischer Selbstorganisierung der Bevölkerung und ökologischer Nachhaltigkeit aufbaut und entwickelt. Gerade die Region Afrin spielte als Zentrum der Frauenrevolution für den Aufbau selbstverwalteter demokratischer Strukturen in Nord- und Ostsyrien eine zentrale Rolle. Hier wurden Institutionen von Frauen sowie eigene Frauenkommunen und -räte aufgebaut, die auf direkter Demokratie basieren und mit dazu beitrugen, die Ungleichheit der Geschlechter aufzubrechen. Gezielt wurden während des türkischen Besatzungskrieges zahlreiche historische Ausgrabungsstätten in der Region zerstört, die Teil des Erbes lokaler matriarchaler Gesellschaften sind, um die Erinnerung einer Region und ein Stück Frauengeschichte auszulöschen und zu besetzten. Darunter zum Beispiel der Tempel Tel Aştar in Ain Dara, der der Göttin Iştar geweiht ist.

Die Zerstörung reicht bis hin zur massiven Verwüstung und irreversiblen Schäden der reichhaltigen Natur und des Ökosystems Afrins mit seinen Bergen, Flüssen und fruchtbaren Boden. Zahlreiche Felder wurden im Zuge der Besatzung der Türkei und ihrer dschihadistischen Milizen verbrannt und zehntausende Bäume, darunter ein Großteil Olivenbäume gefällt. Die zuvor von der lokalen Bevölkerung aufgebauten basisdemokratischen Strukturen mit selbstverwalteten Kommunen und Räten, die das pluralistische Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen sowie ihre politische Beteiligung ermöglichte, wurde mit der türkischen Besatzung ersetzt durch ein Projekt des demografischen Wandels und der Vernichtung nicht nur der kurdischen Bevölkerung mit ihrer Sprache, Kultur und Geschichte vor Ort, sondern des vielfältigen Zusammenlebens der Menschen in der Region.

Bis heute setzt der türkische Staat mithilfe seiner dschihadistischen Milizen seinen Angriffs- und Besatzungskrieg in Nord- und Ostsyrien fort. Immer wieder wird die Region von türkischen Drohnen bombardiert, durch Artillerie beschossen und damit zahlreiche Zivilist:innen verletzt sowie ermordet. Die internationale Gemeinschaft schweigt zu der Besatzung und den fortlaufenden Angriffen und macht sich dadurch mitschuldig. Afrin ist nicht vergessen und wir werden die Besatzung nicht einfach so hinnehmen. Die Verteidigung der Frauenrevolution in Rojava ist international, denn sie inspiriert viele feministische und Frauenbewegungen weltweit. „Diese Revolution findet nicht nur für Kurdistan oder den Mittleren Osten statt, es ist eine Revolution für die gesamte Menschheit, sie ist die Hoffnung der Menschheit. […] Deshalb will ich für die Freiheit aller Frauen kämpfen. Ich habe mich dieser Revolution als Genossin angeschlossen, sollte ich eines Tages versehrt werden oder fallen, dann bin ich dazu als Genossin bereit.“ Mit diesen Worten machte sich Şehîd Hêlîn Qereçox, Anna Campbell, damals auf, um die Revolution in Afrin zu verteidigen. Am 16. März 2018, dem 55. Tag des Widerstandes von Afrin, fiel sie bei einem türkischen Luftangriff, so wie viele weitere im Kampf um die Befreiung Afrins. Mit ihrem Kampf und ihrer Entschlossenheit inspirierte sie viele Menschen und baute Brücken für unseren gemeinsamen Kampf für eine geschlechterbefreite, ökologische, solidarische und demokratische Gesellschaft. Gestern und heute und mit ihnen in unseren Herzen für morgen!

Vereint im Kampf um Befreiung – Gegen Besatzung und Feminizid! Die Verteidigung und Befreiung Afrins ist die Verteidigung der Frauenrevolution!