Shirin Ebadi: Die Bevölkerung des Iran will ein Referendum

Im Gespräch zu den Volksaufständen in Rojhilat und Iran sagt Shirin Ebadi, dass die Menschen mit Protestaktionen aus wirtschaftlichen Gründen begannen, mit politischen Forderungen fortfuhren und nun ein Referendum für eine demokratische Regierung fordern.

Während das Echo der Proteste, die Ende Dezember in Iran und Rojhilat (Ostkurdistan) gegen Armut, Arbeitslosigkeit und die repressive Politik der islamischen Regierung begannen, weiterhin laut und deutlich zu vernehmen ist, sprachen wir mit der international bekannten Juristin, Menschenrechtsaktivistin und Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi über die Volksaufstände im Land. Ebadi sagt im Gespräch mit ANF, dass die Proteste ausbrachen, weil die Bevölkerung der Regierung und den Reformen kein Vertrauen mehr schenkt und den Glauben auf Veränderung aufgegeben hat.

Mit dem Hinweis darauf, dass das iranische Regime die Gesellschaft um jeden Preis beherrschen will, erklärt Frau Ebadi, dass die Volksaufstände zunächst aus wirtschaftlichen Gründen begannen, mit politischen Forderungen fortfuhren und nun ein Referendum für eine demokratische Verwaltung gefordert wird. Frau Ebadi, die die jüngsten Aktionen mit denen von 2009 verglich, sagt: „Damals skandierte die Bevölkerung ‚Wo ist meine Stimme?‘ Jetzt heißt es ‚Wo sind meine Rechte?‘“

Im Iran herrschte abgesehen von einigen lokalen Aktionen lange Zeit Schweigen. Die jüngsten Aktionen waren jedoch sehr gewaltig. Wie bewerten Sie diese Aktionen, wenn wir den historischen kulturellen Reichtum Irans berücksichtigen?

Der Iran hat eine sehr lange Zivilisationsgeschichte. Er hat auch eine sehr reiche Geographie. Iran ist ein Land, das reich an materiellen und zivilen Werten ist. Neben dem Vorkommen von Öl, Erdgas, und dutzenden Arten von verschiedensten Bodenschätzen, leben in dem Land 80 Millionen Menschen unterschiedlicher Zugehörigkeit zusammen.

1979 gab es eine Revolution im Iran, aber am Ende dieser Revolution wurde eine Islamische Republik gegründet, die sich heute in eine Diktatur umgewandelt hat. In Hinsicht auf Geschlecht, Religion und Sprache gibt es Ungleichheiten im Land. Die Menschenrechtsverletzungen haben so enorm zugenommen, dass jeden Tag neue Berichte veröffentlicht werden. Trotz alledem entwickelt sich das iranische Volk weiterhin im intellektuellen Sinne. Die Menschen legen großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder. Es gibt eine gebildete Generation.

Wie war die soziale Struktur im Iran vor der Revolution von 1979?

Vor der Revolution waren Frauen im Iran in vieler Hinsicht fortschrittlicher als heute. Frauen erlitten weniger Diskriminierung und finanziell ging es ihnen auch wesentlich besser als jetzt. Sie hatten mehr individuelle Rechte als es gegenwärtig der Fall ist. Aber in politischer Hinsicht standen sie damals auch unter Druck, denn der Schah glaubte nicht an Demokratie.

Nach der Revolution wurde das Welayat-e Faghih (Regierungssystem der Islamischen Republik Iran) eingeführt. Wie übt dieses System Druck auf die Gesellschaft aus?

Die iranische Verfassung verleiht dem Welayat-e Faghih-System eine breite Palette an Befugnissen. Das heißt, dass dieses System über der Justiz, Legislative und Exekutive steht. Dies führt zu einem undemokratischen System. Außerdem übt die Regierung großen Druck auf die Gesellschaft aus, was wiederum eine religiöse Diktatur hervorbringt.

Was ist Ihrer Meinung nach das Hauptmerkmal, das den Iran von anderen Ländern unterscheidet?

Im Iran hat das Regierungssystem seine eigenen Besonderheiten. Alles im iranischen Regierungssystem wird durch den Islam und dessen Regeln oder die nationale Führung bestimmt. Sie wird durch den Wächterrat (Shoraye Negahban) der Iranischen Revolutionsgarde festgelegt. Deshalb werden natürliche Anforderungen verschiedener Gemeinschaften, Glaubensrichtungen und Religionen im Iran von der Regierung kaum berücksichtigt. Viele Mullahs (Geistliche) zum Beispiel wurden aus diesem Grund nach der Revolution in den Kerker geworfen. Noch heute sind immer noch einige im Gefängnis, weil sie nicht die offiziellen Ansichten teilten, die angeblich nach Regierungs- und Scharia-Recht bestimmt worden sind und sich dem widersetzten.

Bei den jüngsten Aktionen gab es auch Auswirkungen auf die Rolle des Iran im syrischen Krieg. Welche Rolle spielte der Iran in Syrien?

Leider verstößt der Iran gegen internationales Recht und es fällt leicht, in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzugreifen. Vom Irak bis Syrien und nach Jemen überall hat der Iran seine Hände im Spiel. Dafür kann der Iran sich auch Befürworter organisieren. Bei den jüngsten Aktionen drückte die Öffentlichkeit ihr Unbehagen für diese Politik aus und forderte die Regierung auf, sich aus diesen Ländern zurückzuziehen.

Was erhofft sich der Iran, indem es in die inneren Angelegenheiten verschiedener Länder eingreift?

Das islamische Regime versucht seine Vorherrschaft zu verbreiten. Sie wollen quasi das gleiche System in diese Länder exportieren.

Aber in Städten wie Maschhad und Ghom, auf die sich das Regime am meisten verlässt, haben die Volksaufstände begonnen und sich auf das ganze Land ausgeweitet. Diese Aktionen werden von einigen Seiten als gewöhnliche „Aktionen gegen Hunger und Armut" interpretiert. Was ist der Zweck dieser Aktionen?

Die Bevölkerung möchte das gegenwärtige Leben verändern. Die Menschen haben keine Erwartungen vom Regime hinsichtlich Veränderungen oder Reformen. Zunächst hörte man Parolen mit einem wirtschaftlichen Aspekt, doch nach kurzer Zeit traten Ansprüche in den Vordergrund, die Reformen und Veränderung fordern. Jetzt möchte die Bevölkerung ein Referendum. Die Menschen fordern unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen ein Referendum, um ein Verwaltungssystem zu wählen.

In Bezug auf die Proteste ist es auch bemerkenswert, dass die Vorreiter des Wandels vor allem Frauen sind.

Nach der Revolution wurden einige spezielle Gesetze erlassen, um Frauen daran zu hindern, sich zu widersetzen. Der Druck auf die Frauen wurde erhöht. Die Bevölkerung hatte allgemein bereits Probleme, aber die Schwierigkeiten, mit denen Frauen aufgrund ihres Geschlechts konfrontiert sind, sind noch viel stärker. Der Druck auf Frauen nimmt in diesem System jeden Tag zu.

Nach den Wahlen 2009 gingen die Menschen wegen Wahlbetruges auf die Straße. Was ist der Unterschied zwischen den Protesten von damals und denen von heute?

Die Leute, die damals protestierten, sagten, es habe Wahlbetrug gegeben und fragten: „Wo ist meine Stimme?“ Die Menschen, die heute auf die Straße gehen, fragen: „Wo sind meine Rechte?“

Das iranische Regime bezeichnet die Proteste als „Anstachelungen von ausländischen Kräften“. Welchen Weg sollten die Aktivist*innen dagegen einschlagen?

Die Völker des Iran sind wegen Armut, Hunger, Elend, einer korrupten Regierung, Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit, politischer und kultureller Ungleichheit auf die Straße gegangen. Da ist es einfach, die Proteste als Anstachelungen von ausländischen Kräften darzustellen. Seit der Gründung der Islamischen Republik hat das iranische Volk immer seine Unzufriedenheit mit diesem Regime ausgedrückt. Um die Aktionen zu zügeln, beziehen sie sich auf solche Argumente wie „ausländische Kräfte“, „fremde Staaten, Feinde“ usw.

Die PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan) appellierte an das iranische und insbesondere an das kurdische Volk, weder Gegner des Regimes zu sein, noch Befürworter von externen Interventionsmächten, sondern einen dritten Weg für ein demokratisches und gleiches Leben einzuschlagen. Wie bewerten Sie diesen Anruf?

Das kurdische Volk gehört zum Iran. Wir alle sind gegen das Eingreifen ausländischer Mächte in den Iran. Wir wollen gemeinsam in einem gleichberechtigten und demokratischen Land leben.

So wie Sie leben viele Intellektuelle, Akademiker*innen, Schriftsteller*innen und Künstler*innen aus Iran im Exil. Welche Rolle können Sie in diesem Prozess spielen?

Das ist richtig. Iranische Intellektuelle, Denker*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen müssen in der Diaspora leben. Leider gelangt die Stimme für Freiheit und Demokratie des iranischen Volkes nicht weit genug nach außen. Wir können ihre Stimme sein.