Am 3. August jährt sich der Beginn des Völkermords der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) an der ezidischen Bevölkerung von Şengal zum neunten Mal. Die an jenem Tag im Jahr 2014 begonnenen Angriffe führten nicht nur zu einer humanitären Katastrophe, sondern hatten zum Ziel, die ezidische Religionsgemeinschaft auszulöschen. Durch systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie der Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebte die ezidische Gemeinschaft den von ihr als Ferman bezeichneten 74. Völkermord in ihrer Geschichte. Die Zahl der Todesopfer wird von verschiedenen Quellen auf 5000 bis 10000 beziffert, über 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Mindestens 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, von 2.500 der Entführten fehlt bis heute jede Spur. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Femizid dar.
Unter anderem die Vereinten Nationen, das Europäische Parlament und Deutschland haben die Taten des IS in Şengal bereits als Völkermord anerkannt. Eine Petition fordert nun, dass auch das Schweizer Parlament nachzieht und den Genozid anerkennt. Mehr als 80.000 Unterschriften wurden dafür gesammelt und am Freitag bei der Bundeskanzlei in Bern eingereicht. Die Stabsstelle des Bundesrats hat die Funktion eines Scharniers zwischen Regierung, Verwaltung, Parlament und Öffentlichkeit und nimmt die Petitionen, die an das Parlament gerichtet sind, entgegen.
An der Übergabe haben etwa 50 Personen teilgenommen, darunter auch viele Geflüchtete, die von den Schrecken des Völkermordes berichteten, die sie durch den sogenannten IS erlitten haben. Auch die grüne Nationalrätin Natalie Imboden und SP-Nationalrat Roger Nordmann waren bei der Übergabe dabei und erklärten, sich im Parlament dafür einsetzen zu wollen, dass die Schweiz den Völkermord an der ezidischen Gemeinschaft anerkennt.
Anwesend bei der Unterschriftenübergabe war auch der Petent Delshad Ido, der die Petition von Deutschland aus gestartet hat. Er zeigte sich beeindruckt davon, dass es gelungen sei, in nur drei Monaten 80.927 Unterschriften für die völkerrechtliche Anerkennung des IS-Genozids in seiner Heimat zu sammeln. „Die Anerkennung dieses Völkermords ist von großer Bedeutung, da sie ein starkes Signal sendet, dass das Leid und die Entbehrungen der Opfer und ihrer Familien anerkannt und gewürdigt werden“, sagte Ido in einer Ansprache. Es handele sich um einen unerlässlichen Schritt, um Verantwortung zu übernehmen, Konflikte zu bewältigen und eine friedliche und nachhaltige Zukunft für alle zu gewährleisten. Darüber hinaus trage die Anerkennung dazu bei, zukünftige Völkermorde zu verhindern.
Ezidische Minderheit bleibt gefährdet
Neun Jahre nach dem letzten Ferman ist die Situation der Ezidinnen und Eziden in Şengal weiterhin prekär. Der IS ist zwar militärisch besiegt, doch die Sicherheitslage in der Region steht im Fokus der Türkei und der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), die in Südkurdistan die Regierung dominiert. Seit 2017 führt der türkische Staat immer wieder Drohnenangriffe auf Şengal durch, zahlreiche Mitglieder der Selbstverwaltung, der Sicherheitskräfte und der Verteidigungskräfte, Gesundheitsbedienstete und viele weitere Zivilist:innen wurden von Killerdrohnen getötet.
2020 haben die Angriffe des türkischen Staates in Şengal zugenommen, nachdem auf Druck von Ankara das sogenannte „Şengal-Abkommen“ zwischen Bagdad und Hewlêr getroffen wurde. Der Vertrag sieht die Zerschlagung und Auflösung der in der Region unter dem Eindruck des IS-Genozids aufgebauten Selbstverwaltungsstrukturen und bewaffneter Kräfte vor. Die Ezidinnen und Eziden lehnen das Abkommen ab. Der zentrale Kritikpunkt ist, dass der Deal über die Köpfe der ezidischen Gemeinschaft hinweg getroffen wurde und selbst Ansichten der Bevölkerung nicht eingeholt wurden.
Auch der Wiederaufbau in Şengal hat kaum begonnen. Nur wenige vertriebene Ezidinnen und Eziden sind in ihre Siedlungsgebiete zurückgekehrt, während etwa 150.000 bis 180.000 von ihnen immer noch in Flüchtlingslagern rund um die südkurdische Stadt Dihok leben. Die humanitäre Versorgung dort ist desaströs. Dennoch verhindert die PDK aktiv die Rückkehr zahlreicher Rückkehrwilligen.