Das Camp Lavrio hat eine lange Geschichte. Unzählige kurdische und türkische Revolutionär:innen begannen in den vergangenen 43 Jahren dort ihren Weg ins Exil. Nun wurde das 1947 eingerichtete Camp von der griechischen Polizei geräumt.
Am 5. Juli 2023 stürmten hunderte griechische Polizist:innen das selbstverwaltete Lager und Solidaritätszentrum. Die Polizei brach die Türen und Fenster des überwiegend von Kurd:innen bewohnten Flüchtlingslagers auf und setzte Gewalt ein, um mehr als 50 kurdische Flüchtlinge, unter ihnen auch Kinder, zu ergreifen und in andere Lager umzuverteilen.
Deportation in „flüchtlingspolitische Hölle“
Die Mehrheit der festgenommenen Lagerbewohner:innen wurde in das Lager Inofiton (Oinofyta), etwa 60 Kilometer außerhalb von Athen gebracht. Das Lager in der Fabrikhalle gehört zu den berüchtigtsten Unterbringungen für Geflüchtete in Griechenland. Bereits 2017 war das Lager wegen unmenschlicher Bedingungen einmal geschlossen worden. Es wurde im März 2018 wiedereröffnet, nicht weil sich die Bedingungen verbessert hatten, sondern um der Nachfrage gerecht zu werden. Investigative Journalist:innen besuchten das Lager nach der Wiedereröffnung und stellten fest, dass die Bedingungen sogar noch schlimmer waren als bei der ursprünglichen Schließung. Die Einrichtung wird als flüchtlingspolitische „Hölle“ bezeichnet.
2021 kam das Lager erneut durch Proteste von Schutzsuchenden aus Rojava in die Schlagzeilen. Bewohner:innen blockierten den Eingang zum Camp, um gegen die Bedingungen in Oinofyta und die andauernden Ablehnungen der Asylanträge von Kurd:innen aus Rojava und anderen Regionen zu protestieren. Sie wurden abgelehnt, weil die Türkei angeblich ein sicheres Drittland sei. Die Flüchtlinge erklärten damals: „Wir haben keine andere Lösung [...] Seit drei Monaten erhalten wir keine Bargeldunterstützung mehr, die Situation ist sehr schwierig. Aber das wichtigste Problem ist, dass in den letzten zwei bis drei Monaten die Asylanträge von etwa 150 kurdischen Staatsangehörigen aus Syrien, darunter Familien, Frauen und Kinder, abgelehnt wurden. Wir haben in der Asylanhörung unsere Situation in der Türkei erklärt. Es ist dort überhaupt nicht sicher.“ Sie kritisierten außerdem die regelrechte Internierung in dem Lager. Nach Auskunft der Behörden werden der angeblich renovierten Einrichtung nun ausschließlich kurdische Geflüchtete zugewiesen. Allein die Lage des Lagers zeigt allerdings die Situation der Menschen. Es befindet sich am Rand einer Autobahn, fern von jedem öffentlichen Nahverkehr. So sollen die kurdischen Flüchtlinge auch von der griechischen Gesellschaft, die sich immer wieder solidarisch zeigt, isoliert werden.
„Keine humanitäre Aktion, sondern eine Militäroperation“
Eine der betroffenen Bewohner:innen, die aus Lavrio nach Oinofyta gebracht wurden, ist Leyla. Sie betont, dass die Behauptungen der Behörden, es habe sich um eine „humanitäre Räumung“ gehandelt, nicht zutreffen. Vielmehr habe es sich um eine „Militäroperation“ gehandelt. Leyla, die mit ihrem Mann und ihren drei Kindern aufgrund der Verfolgung durch den türkischen Staat vor etwa einem Jahr nach Griechenland gekommen war, sagt über das Lager Lavrio: „Ich habe mich dort nie als Flüchtling gefühlt. Ich wurde weder kulturell noch sozial allein gelassen. Es war ein kurdisches Lager. Wir haben es als unsere Heimat angenommen.“
Hunderte Polizisten für 30 bis 40 Personen
Leyla berichtet, dass die Polizei gegen fünf Uhr morgens in das Camp eindrang. Sie hielt die ganze Operation zunächst für einen Witz, sagt sie und führt aus: „200 bis 300 Polizist:innen umstellten das Lager. Zehn schwer bewaffnete Polizisten betraten das Gebäude. Sie richteten Gewehre auf uns. Ich habe zwei Töchter und einen Sohn. Meine Töchter sind vier und fünf Jahre alt. Wie werden sie dieses Trauma überwinden? Meine Kinder waren sehr verängstigt. Ich habe versucht, meiner Tochter vorzugaukeln, dass die Waffen ‚Spielzeug‘ seien, aber das Kind kennt das aus der Türkei. Meine Kinder haben Dinge gesehen, die sie nicht verdient haben zu sehen. Wir sahen unsere Genossen, unsere Freundinnen, sie waren mit Handschellen hinter ihrem Rücken gefesselt. Hunderte Polizisten wurden für 30 bis 40 Personen eingesetzt.“
„Sie werden ihr Ziel nicht erreichen“
Leyla bezeichnet das Vorgehen als „Komplott“ und erzählt weiter: „Sie haben uns nicht einmal erlaubt, unsere Kleidung zu wechseln. Ich bat einen männlichen Polizeibeamten, rauszugehen, damit ich mich umziehen kann. Aber nicht einmal das ließen sie zu. Ich musste mich hinter einem Vorhang umziehen, während sie drin waren. Genauso wurden wir in der Türkei, aus der wir geflohen sind, behandelt.“ Leyla sieht in der Operation einen Versuch, die Flüchtlinge aus Kurdistan zu zerstreuen und zu isolieren. Sie stellt fest: „Sie denken, dass sie uns, unsere Gemeinschaftlichkeit, auf diese Weise beenden werden, aber das ist nicht möglich.“
Ergebnis eines Deals mit der Türkei
Welat, ebenfalls aus Lavrio, beschrieb, dass alle griechischen Behörden, von Ministeriums- bis hin zur Gemeindeebene, von Geheimdienst-, über Bereitschafts-, Anti-Terror-, Sondereinsatz- und Zivilpolizeieinheiten, an der Operation beteiligt waren. Er fügte hinzu, dass die Stadt bereits Stunden vor der Operation im Belagerungszustand war und die Polizei um fünf Uhr morgens in das Lager eindrang. Die Polizei habe zunächst einen Hund eingesetzt, um die Wache des selbstverwalteten Lagers hervorzulocken. Dann griff die Polizei den Wachhabenden an. Auch Welat wies die Behauptung der griechischen Behörden zurück, dass das Lager „auf Wunsch der Flüchtlinge“ geräumt wurde.
Mit Blick auf die Gespräche zwischen der Türkei und Griechenland erklärte Welat, dass die griechische Regierung im Einklang mit den Forderungen des türkischen Staates gehandelt habe und diese Operation auf der Grundlage eines Deals zwischen beiden Ländern durchgeführt wurde. Er wies darauf hin, dass die Türkei geflüchtete Kurd:innen als Mittel der Erpressung einsetze.
Proteste vor dem Parlament
Das Kurdische Kulturzentrum Griechenlands (DKTM) wies ebenfalls die Behauptung des griechischen Ministeriums für Asyl und Migration zurück, wonach die Bewohner:innen das Flüchtlingslager in Lavrio freiwillig geräumt hätten. Das Lager sei von der Bereitschaftspolizei gewaltsam geräumt worden. Das DKTM organisierte eine Demonstration vor dem Parlament in Athen, um gegen den Polizeieinsatz zu protestieren. Die Protestierenden wiesen auf den bevorstehenden NATO-Gipfel hin und beschrieben den Angriff auf Lavrio als Teil eines NATO-Deals mit der Türkei. Im Lager Oinofyta kam es ebenfalls am Abend zu Protesten durch die verlegten Schutzsuchenden.
Seit 2017 sollte Lavrio geräumt werden
Die Initiative für Solidarität mit kurdischen politischen Flüchtlingen in Lavrio wies darauf hin, dass der griechische Staat seit 2017 versucht hat, das Lager zu räumen. So wurde jede Hilfe durch das Rote Kreuz aus dem Lager abgezogen und die staatliche Unterstützung eingestellt. Trotz dieses Embargos gegen die Schutzsuchenden im Lager leisteten die Bewohner:innen durch Selbstorganisierung und Selbstversorgung sechs Jahre lang Widerstand. Die Initiative stellte fest, dass die neue rechte Regierung versucht, sich auf Erdoğan zuzubewegen, und erklärte: „Die Schließung des Lagers geht von der Türkei aus. Sie bezeichnet das Lager seit Jahren als ‚Nest der PKK-Terroristen‘. Auch der Bürgermeister von Lavrio tut seit Jahren sein Bestes, um kurdische Flüchtlinge zu vertreiben."