Der kurdische Rechtsanwalt und Menschenrechtler Şerafettin Kaya ist im Alter von 92 Jahren in Ankara verstorben. Sein Tod bedeutet einen großen und unersetzlichen Verlust für die Gemeinschaften in Kurdistan. Şerafettin Kaya galt als juristisches Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft im Kontext des türkischen Kolonialrechts. Die Generation jener Zeitzeugen der Verbrechen in Kurdistan, deren Biographien in die frühen Jahre der türkischen Republik zurückreichen, ist durch seinen Tod um ein vielfaches kleiner.
Şerafettin Kaya wurde am 1. Dezember 1929 in Gimgim (tr. Varto) in der Provinz Mûş geboren. Von 1948 bis 1951 besuchte er das „Lehrerseminar“ in Erzîrom (Erzurum) und arbeitete anschließend bis 1962 als Lehrer in seiner Geburtsstadt und in Ankara. Dort studierte er von 1958 bis 1962 gleichzeitig an der Juristischen Fakultät. 1960 wurde er zum ersten Mal verhaftet; man hielt ihn zwölf Tage fest und schlug ihm sämtliche Zähne aus. Von 1963 bis 1977 führte er ein Rechtsanwaltsbüro in Mûş und verteidigte gleichzeitig in den Jahren 1971-74 oppositionelle Kurden in Amed (Diyarbakır). 1971 und 1973 verhaftete man ihn - jeweils aus politischen Gründen - erneut. 1974 wurde er Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer Mus und für sechs Jahre Delegierter der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei (TBB) in Ankara. 1976 zählte Kaya zu den Gründungsmitgliedern der kurdischen Partei Rizgarî (Befreiung). Drei Jahre später eröffnete er eine Kanzlei in Amed. Sein Leben widmete Şerafettin Kaya dem Kampf gegen die Unterdrückung des kurdischen Volkes, verteidigte kurdische Oppositionelle und trat auch nach dem Putsch von 1980 offensiv für die Rechte seiner Mandanten, gegen Folter und Unterdrückung ein.
Als am Morgen des 12. September 1980 die Menschen in der Türkei aus dem Radio vernahmen, dass „die Armee für das Wohl und die Unteilbarkeit des Landes die Macht übernommen” habe, hatte Junta-Chef Kenan Evren bereits Kriegsrecht über das Land verhängt und alle Parteien verboten. Mit der Auflösung des Parlaments erfolgte auch die Verhaftung von über 200 Abgeordneten. Anschließend wurden alle Militärgefängnisse des Landes wieder in Betrieb genommen, um Platz für unliebsame Gegner zu schaffen. Zur Zeit der Junta wurden allein bis 1983 fast 650.000 Menschen aus politischen Gründen festgenommen. Die Gefängnisse wurden durch Befehle des Militärs und Richtlinien des Ministeriums für Justiz verwaltet. Ein Jahr nach dem Putsch gab es 123.000 politische Gefangene. Fast jede inhaftierte Person musste Folter erleiden.
Şerafettin Kaya 2014 nach Jahrzehnten des Exils erstmals wieder in seiner Heimat Mûş
Şerafettin Kaya war einer dieser Menschen. Er wurde im Februar 1981 festgenommen und landete im Gefängnis von Diyarbakir, das am Tag des Putschs zu einem Militärgefängnis im Kriegsrecht umgewandelt worden war. Durch brutale Foltermethoden wie systematische Prügel, Pfahlhängen, Elektroschocks (bei denen spezielle Elektroden an den Genitalien befestigt wurden), sexuelle Folter, Vergewaltigung, Disco (das Baden in Fäkalien), Schlaf-, Nahrungs- und Wasserentzug für lange Zeiträume, Übungen unter extremen Temperaturen, das Quetschen, Abpressen und Strecken von Körperteilen und Genitalien, Verbrennen mit Zigaretten und Herausreißen von Haaren, Nägeln und Zähnen erlangte das Gefängnis Berühmtheit unter der Bezeichnung „Die Hölle von Diyarbakir“ (ku. Zindana Amedê).
Aus Angst, er könne ihnen im Gefängnis an den Folgen der Folter sterben, ließen die Militärs Şerafettin Kaya am 23. September 1981 frei, hoben aber die Anklage nicht auf. Im Februar 1982 flüchtete er aus der Türkei, kam in die Bundesrepublik und beantragte hier Asyl. Er ließ sich in Kiel nieder, wo er als Gutachter in Asylverfahren und Prozessen auftrat und sich für den muttersprachlichen Unterricht in kurdischer Sprache einsetzte. Zweimal wurde er in Abwesenheit von türkischen Gerichten zu einer Gesamtstrafe von neuneinhalb Jahren verurteilt. Seine Erlebnisse im Zindana Amedê schilderte er stellvertretend für Tausende in seinem Buch „Diyarbakır – Erfahrung in einem türkischen Kerker”, das 1984 im Bremer Verlag Edition CON erschien.
Cover von „Diyarbakır – Erfahrung in einem türkischen Kerker”
Sein politisches Engagement für die „kurdische Sache“ setzte Şerafettin Kaya auch im Exil unbeirrt fort. 1995 wirkte er an der Gründung des Kurdischen Exilparlaments mit, das seinen Sitz im niederländischen Den Haag hatte und sich dafür einsetzte, der kurdischen Gesellschaft international eine Stimme zu verleihen. Mit der Gründung des Nationalkongress Kurdistan (KNK) im Jahr 1999 wurde das Exilparlament aufgelöst. Şerafettin Kaya gehörte auch zu den Mitgliedern des KNK. Dort löste sein Tod am Sonnabend Trauer und Bestürzung aus. In einer Erklärung heißt es: „Şerafettin Kayas Tod erschüttert uns tief. Wir trauern um einen wichtigen Weggefährten.”
In die Türkei reiste Şerafettin Kaya erstmals wieder 2014. Es war die Zeit des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Kaya und anderen kurdischen Exilanten wie Yusuf Serhat Bucak war im Vorfeld der Reise worden garantiert worden, dass sie ihre Haftstrafen nicht verbüßen müssen. Die letzten Jahre verbrachte er die meiste Zeit in Ankara. Am Dienstag soll er auf eigenen Wunsch hin auf dem Friedhof Taşo in Mûş beigesetzt werden.