Am Berner Regionalgericht hat am Dienstag der Prozess gegen vier Beschuldigte im Zusammenhang mit dem „KillErdogan“-Transparent begonnen, das bei einer Demonstration 2017 in Bern gezeigt wurde. Bereits eine Dreiviertelstunde vor Prozessbeginn fanden sich rund 80 Unterstützer:innen ein. Wie das Unterstützungskomitee mitteilt, wurden auf einer Solidaritätskundgebung vor dem Gerichtsgebäude verschiedene Reden gehalten, darunter von einer der beschuldigten Personen sowie des Kollektives „Basel Nazifrei“, das in Basel die Angeklagten eines antifaschistischen Protestes unterstützt.
Beschlagnahmte Kunstinstallation vor dem Berner Regionalgericht (Foto: Unterstützergruppe)
„Die Polizei reagierte auf die Solidaritätskundgebung nervös und verwies alle, die nicht unmittelbar zum Gerichtsprozess zugelassen waren, des Platzes. Ebenfalls wurden politische Transparente und eine Kunstinstallation durch die Polizei entwendet. Einzelne Personen wurden kontrolliert“, so die Unterstützungsgruppe, die auf einer Webseite die thematischen Hintergründe des Prozesses detailliert darstellt. Weiter heißt es in der Erklärung zum Protestauftakt:
Im Gerichtssaal konnten neben acht akkreditierten Medienschaffenden zwölf Vertrauenspersonen der Beschuldigten Platz nehmen. Ein Antrag der Staatsanwaltschaft, nur vier Vertrauenspersonen zuzulassen, scheiterte.
In den Vorfragen stellten die Strafverteidiger Dominic Nellen und Bernard Rambert den Antrag, jene Mitarbeitende des Eidgenössischen Departementes für Äusseres (EDA) als Zeug:innen vorzuladen, die sich mindestens sechs Mal bei der Staatsanwaltschaft nach dem Stand des Verfahrens erkundigt hatten. Dieser Antrag wurde durch den Gerichtspräsidenten abgelehnt. „Es ist für das Verständnis dieses Gerichtsprozesses zentral, dass die Druckversuche der Türkei in dieser Sache offengelegt werden“, begründet Rechtsanwalt Dominic Nellen diesen Beweisantrag.
Twitternder AA-Mitarbeiter im Gerichtssaal
Unter den Medienschaffenden war auch ein Mitarbeiter der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu anwesend. Auffallend war, dass besagter angeblicher Journalist wenig bis keine Kenntnisse der Verhandlungssprache hatte und zunächst nicht bekannt gab, für welches Medium er arbeitet.
In der ersten Verhandlungspause gelang es den Beschuldigten und ihren Anwält:Innen, den Twitteraccount des Anadolu-Mitarbeiters ausfindig zu machen. Kurz vor Prozessbeginn bezeichnete er auf diesem die Beschuldigten als „Terroristen“. Bereits 2017 benutzte er diesen Begriff der türkischen Propaganda gegen die Opposition in seiner Berichterstattung.
Rechtsanwalt Dominic Nellen stellte daraufhin einen Strafantrag wegen Ehrverletzung sowie das Gesuch, den Journalisten des Gerichtssaals zu verweisen. Rechtsanwalt Dominic Nellen: „Es kann nicht sein, dass ein Journalist in einem Gerichtssaal verbleiben darf, der die betroffenen Beschuldigten offen als Terroristen bezeichnet und sich damit wohl strafbar gemacht hat. Dies stellt ein Sicherheitsrisiko dar. Ich erwarte, dass das Gericht diesen Journalisten ab sofort von der Verhandlung ausschliesst.“
„Propagandist des türkischen Staates“
Für die Beschuldigten und deren Anwälte ist klar, dass durch diese Präsenz die Sicherheit der Beschuldigten, Zeug:innen und Vertrauenspersonen nicht gewährleistet ist. „Anadolu ist kein freies
Medium, es ist ein Propagandainstrument Erdogans Diktatur. Wir nehmen die Anwesenheit von Schergen des türkischen Staates nicht hin!“, sagt eine beschuldigte Person.
Eine weitere beschuldigte Person führt aus: „Die Türkei selber sperrt kritische Journalist:innen ein. Dass ein Propagandist dieses Staates nun auf die Pressefreiheit pochen will, ist blanker Hohn.“
Keine fünf Minuten, nachdem der Antrag gestellt worden war, wurden sämtliche Tweets gelöscht – der Journalist bestritt in der Verhandlungspause, die dem Antrag folgte, dass es sich um seine Tweets handelte.
„Konflikt zwischen Unschuldsvermutung und Pressefreiheit“
Der Rest des Prozesstages war von längeren Pausen geprägt, bis kurz vor drei Uhr klar war: Der Prozesstag wird abgebrochen, da zunächst über den Antrag einer Verweisung des Journalisten zu befinden sei. Der Gerichtspräsident verwies dabei auf den Konflikt zwischen der Unschuldsvermutung und der Pressefreiheit.
Fortsetzung am Mittwoch
Damit hatte sich das Gericht heute noch nicht wie erwartet mit der Sichtweise der Beschuldigten sowie von Zeug:innen auseinanderzusetzen. Dafür mit der Frage, ob es einen Herrn, der die Unschuldsvermutung verletzt haben soll und durch seine Teilnahme am Prozess grundsätzlich in der Lage ist, heikle Informationen an Ankara weiterzugeben, in Verletzung der Pressefreiheit des Gerichtssaals verweisen werden solle. Die Frage des Schutzes von Beschuldigten und Zeug:innen vor allfälliger türkischer Einflussnahme und damit auch das Vorgehen gegen Andersdenkende von türkischer Seite ist also im Gerichtssaal angekommen.
Der Prozess soll morgen Mittwoch weitergeführt werden, mit einem Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt gerechnet.