HDP-Aktivistin: Unser Leben ist nicht sicher!
Seven Özyıldırım ist HDP-Aktivistin aus Istanbul. Ihre Erlebnisse stehen sinnbildlich dafür, welchen Repressionen ein Mitglied der HDP in der autoritären Türkei von heute ausgesetzt ist.
Seven Özyıldırım ist HDP-Aktivistin aus Istanbul. Ihre Erlebnisse stehen sinnbildlich dafür, welchen Repressionen ein Mitglied der HDP in der autoritären Türkei von heute ausgesetzt ist.
Die Repressionen gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) kennen in der Türkei keine Grenzen. Gewählte Bürgermeister*innen werden abgesetzt und inhaftiert. Dutzende HDP-Mitglieder werden nahezu täglich bei Razzien und Durchsuchungen festgenommen. Und auch den Aktivist*innen der HDP, die nicht hinter Gittern gesteckt werden, wird keine Ruhe gelassen.
Seven Özyıldırım ist im Bezirk Maltepe in Istanbul Aktivistin. Die vierfache Mutter berichtet uns davon, welchen Repressionen sie aufgrund ihrer politischen Überzeugung ausgesetzt ist. „Am 26. Oktober klingelte um 10 Uhr unser Haustelefon“, fängt Özyıldırım an zu erzählen. Anschließend fährt sie wie folgt fort: „Der Mann am anderen Ende der Leitung stellte sich als Kommissar der örtlichen Polizeileitstelle im Stadtviertel Gülsuyu vor. Er sagte, ich müsse für eine Aussage zur Polizei kommen. Ich antwortete ihm, dass ich meinen Sohn von der Schule abholen müsse und deshalb frühestens am nächsten Tag vorbeikommen könnte. Doch darauf ging er nicht ein und gab mir eine halbe Stunde Zeit, um bei der Polizei zu erscheinen. Als ich ihn fragte, worum es denn ginge, sagte er, der Gegenstand sei ein Streit auf dem Fußballplatz, in welchen angeblich auch mein Sohn verwickelt gewesen sei. Da sich mein Mann damals in Haft befand, ging ich daraufhin mit meiner Nachbarin zur Polizei.”
Die HDP-Aktivistin wurde bei der Polizei dann zu ganz anderen Themen befragt. Sie berichtet weiter: „Vor der Tür habe ich mein Handy meiner Nachbarin gegeben und ihr gesagt, sie solle meinen Anwalt benachrichtigen, falls ich in zehn Minuten nicht wieder draußen sei. Drinnen angekommen schickte mich ein Polizist eine Etage nach oben. Vor mir lief ein uniformierter Polizist und hinter mir fünf Polizeibeamte in Zivil. Ich fragte, was denn los sei. Doch sie sagten nur, ich solle weiter marschieren. Dann wurde ich in ein Zimmer gebracht, in dem im Gegensatz zu den anderen Räumen keine Kamera installiert war. Als ich erneut fragte, worum es geht, fragten sie mich nach meiner Tochter Berfin und wo sie sich aktuell befinde. Ich sagte, sie habe uns vor drei Jahren verlassen. Wo sie genau sei, könne ich nicht beantworten. Doch sie ist zu einem Jungen, der aus der Stadt Qers (Kars) stammt, geflohen. Ich erklärte den Polizisten auch, dass ich sie als vermisst gemeldet hatte.
Sie fragten, ob ich in jüngster Zeit ein Bild von ihr erhalten habe, was ich verneinte. Dann zeigten sie mir Bilder, auf denen sie angeblich in den Bergen bei der Guerilla zu sehen sei. Ich erklärte, dass diese Bilder nicht echt seien. Doch diese Antwort machte sie wütend. Dann fragten sie mich nach meinen Mann und seinen ebenfalls inhaftierten Freunden aus. Sie fragten, ob mein Mann Berfin in die Berge geschickt habe. Ich sagte, dass das nicht stimmt. Daraufhin schlug ein Polizist mit der Faust auf den Tisch und schrie mich an, weshalb ich denn eigentlich gar nichts wisse. Er fragte weiter, warum mein Mann am Hungerstreik teilgenommen habe und sich weigerte, in die Zelle der Unbeteiligten verlegt zu werden. Ich sagte, dass dies sein eigener Wille war. Auf diese Antwort hin machten sie mir würdelose Angebote.”
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Was darauf folgte, sei wohl die eigentliche Absicht hinter dem Verhör gewesen, vermutet Özyıldırım, die ihre Erlebnisse an jenem Tag wie folgt weiter ausführt: „Erst fragten sie mich, ob ich denn genügend Kohle und Holz zum Heizen meiner Wohnung habe. Dann wechselten sie das Thema und erklärten, dass ich mir doch ein Vorbild an den Müttern nehmen könne, die in Amed (Diyarbakir) vor der Tür der HDP nach ihren Kindern fordern. Sollte ich dem Vorbild folgen, könne man mir helfen, dass auch Berfin zurückkomme. Ich solle der Polizei behilflich sein und sie würden dann mich unterstützen. Auch mein Mann sei ja schon elf Monate in Haft und es sei schwer für eine Frau alleine in Istanbul. Als nächstes sagte der Polizist, ich sei eine hübsche Frau und ob ich nicht mit ihm einmal essen gehen wolle. Niemand würde uns sehen. Ich könne auch mit seinem Kollegen zum Essen gehen, falls er mir besser gefalle. Diese Worte machten mich verrückt. Ich erinnerte sie daran, dass sie doch auch Mütter und Schwestern haben, und wollte aufstehen, um den Raum zu verlassen.
Der Polizist stoppte mich und sagte, es würde ihnen ausreichen, wenn ich das Parteibüro der HDP in Gülsuyu besuche und dann ihnen berichte, wer das Büro sonst so besucht und über was dort gesprochen wird. Wenn ich mit ihnen kooperieren sollte, würden sie angeblich dafür sorgen, dass mein Mann frei kommt und meine Kinder Privatschulen besuchen. Selbst eine Eigentumswohnung versprachen sie mir. Ich müsse mir nie wieder Sorgen wegen fehlender Heizkohle machen. Ich solle mir genauestens dieses Angebot durch den Kopf gehen lassen. Dann bedrohte er mich noch, dass ich niemandem davon berichten solle, worüber hier gesprochen worden ist. Meiner Nachbarin vor der Tür solle ich sagen, dass es um unbeglichene Telefonrechnungen ginge.”
Özyıldırım erklärt, dass sie den Vorfall sofort ihrem Anwalt geschildert habe. Sie fürchtet allerdings aufgrund dessen, dass sie alles öffentlich gemacht hat, um ihr Leben. Ihr Mann sei zwar vor Gericht freigesprochen worden. Doch nach seiner Freilassung sei er bereits dreimal erneut kurzzeitig festgenommen worden. „Wenn mir oder meinem Mann etwas zustoßen sollte, dann will ich nur, dass die Öffentlichkeit weiß, dass alleine der türkische Staat dafür verantwortlich ist”, so die abschließenden Worte von Seven Özyıldırım.