Hamburg: Workshops zum Netzwerken und Austauschen

Im Rahmen der Konferenz „Wir wollen unsere Welt zurück“ gab es gestern in Hamburg den ganzen Tag über Workshops. Das Spektrum reichte von der Überwindung des Kapitalismus über Anthropologie für Kinder bis zur Kunst des Geschichtenerzählens.

Im Rahmen der Konferenz „Wir wollen unsere Welt zurück“ fanden am Samstag den ganzen Tag an verschiedenen Orten in Hamburg Workshops statt.

 

Einer der Workshops war „Das zerbrochene Mosaik vereinen: Die armenisch-kurdischen Beziehungen nach dem Völkermord“ im Centro Sociale, einem selbstverwalteten Zentrum auf St. Pauli. Das Berliner „Ararat-Kollektiv“ wurde 2020 gegründet und hat zum Ziel, sich für die Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen und ihren Freiheitskampf einzusetzen. Der Workshop gliederte sich in drei Teile, die jeweils aus einem Vortrag und gemeinsamer Diskussion bestanden.

Zunächst wurde durch eine Referentin historisch in das Thema eingeleitet. Der Genozid an den Armenier:innen geschah Anfang des 20. Jahrhunderts während des Ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich. Dem voraus gingen eine Politik der Unterdrückung und mehrere Massaker. Die jungtürkische Regierung befahl die Vertreibung und Vernichtung der Armenier:innen. An dem Genozid selbst waren auch kurdische Regimenter aktiv beteiligt – so berichtete die Referentin. Teilweise sei es auch zu Rettungsaktionen gekommen. In dem Vortrag und der anschließenden Diskussionen wurde deutlich, dass es hierbei mehr Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme kurdischer Organisierungen und Communities brauche. Auch die deutsche Verantwortung wurde betont. Das Deutsche Kaiserreich stellte Logistik und Artillerie und war Zufluchtsort für Täter des Genozids.

In den Diskussionen stellte sich heraus, wie wichtig ein gemeinsamer Dialog zwischen kurdischen und armenischen Gemeinschaften ist. Hierbei wurde sich auch auf Perspektiven des Demokratischen Konföderalismus bezogen und auf Armenier:innen, die sich in Rojava organisieren. Es wurde auf die Bedrohungslage durch die Türkei und die sich daraus ergebenden Gemeinsamkeiten im Kampf gegen Unterdrückung eingegangen. Hierbei gab es einen Input zu der inoffiziellen Beteiligung der Türkei an der Kriegsführung Aserbaidschans gegen Armenien.

Jenseits des Staates

Das Thema dieses Workshops, der am Nachmittag in der Roten Flora stattfand, war die Frage, wie sich die Gesellschaft ohne den Staat organisieren kann. „Wenn wir unsere Welt zurückwollen, müssen wir uns organisieren“, so die Moderatorin Elif Kaya.

Zunächst sprach Azra Talat Sayeed von der International Women's Alliance, die schon am Freitag im Bürgerhaus Wilhelmsburg über die Situation der Bäuer:innen im ländlichen Pakistan referiert hatte. Sie machte am Beispiel einer Überschwemmungskatastrophe in der Provinz Sindh, die letzten September begonnen hatte, deutlich, dass gesellschaftliche Solidarität bedeutungsvoller ist, als sich auf den Staat zu verlassen, der in der Katastrophe oft nicht für die Menschen da ist. 

Bis zu 60 Prozent von Sindh wurden im vergangenen Jahr überflutet. Die Bäuer:innen verloren ihre gesamte Ernte. Im Moment der größten Verzweiflung, so Sayeed, hätte die Selbstorganisation der Bäuer:innen „Roots for Equality“ gegriffen, die 2008 gegründet wurde. Selbstlos stellten Bäuer:innen aus anderen Provinzen einen Teil ihrer Ernte zur Verfügung. Die Organisation verteilte Lebensmittel an die Opfer der Katastrophe.

Zerstörung des Amazonasurwaldes

Aus dem brasilianischen Amazonasgebiet nahmen Maria Leusa Kaba und Edine Kirixi an der Diskussion teil. In ihrer traditionellen Kleidung begannen sie mit einem Lied und einen Kampfruf in Munduruku. Sie berichteten mit Bildern aus ihrer Heimat, dem Amazonasurwald, über die Zerstörung des Waldes durch internationale Konzerne. Anhand einer Karte zeigten sie auf, welch großen Gebiete ihrer Heimat schon für die natürliche Lebensweise verloren sind. Die Ansiedlung von Industriekonzernen beeinflusse das Leben äußerst negativ. Die Munduruku jedoch würden Widerstand leisten, um das Land gegen die Konzerne zu verteidigen. Die Regierung habe in keiner Weise das Territorium der Munduruku respektiert. Zunächst musste die indigene Bevölkerung selbst verstehen, was mit ihrem Land geschieht, dass die Flüsse und die Fische durch die Ausbeutung des Landes sterben würden. Das Munduruku-Gebiet umfasse 145 Dörfer. Die Munduruku hätten erfolgreiche Besetzungsaktionen in der Stadt durchgeführt, um traditionelle Kulturgüter zurückzuholen, die ihnen gestohlen wurden.

„Wir verteidigen das Leben. Denn wir sind die einzigen, die für unsere Rechte kämpfen können. Der Staat tut nichts für uns, obwohl dieses Land uns gehört. Ich habe keinerlei Vertrauen in den Staat. Wir glauben daran, dass wir uns selbst regieren müssen“, so Edine Kirixi. „Auch Lula will unser Gebiet zerstören. Er wird uns in keiner Weise helfen. Wir selbst sind die einzigen, die uns retten können. Ich bin wütend auf den Staat. Wir haben so viele Menschen und so viel unseres Territoriums verloren“, schließt sie ihre Rede.

Aus dem Publikum beteiligte sich auch Adriana Guzman Arroyo mit einer Kritik an der Linken in Europa: „Ihr wollt Solidarität zeigen, aber kämpft nicht gegen eure eigenen Regierungen. Statt nach Bolivien oder Peru zu kommen, solltet ihr hier bleiben und Widerstand gegen eure Staaten leisten“, forderte sie.

Die Rechtsanwältin Ebru Günay, die in der Vergangenheit zum Verteidigerteam von Abdullah Öcalan gehörte und auch selbst fünf Jahre im Gefängnis verbrachte, berichtete über die fehlende staatliche Hilfe nach den verheerenden Erdbeben, die Anfang Februar die türkisch-syrische Grenzregion erschütterten. „Ich bin überzeugt, dass der Grund für die Katastrophe eine falsche Politik ist, die Warnungen von Fachleuten ignoriert“, erklärte Günay, die seit 2018 Parlamentsabgeordnete der HDP ist. Sie selbst erlebte das Erdbeben in Amed (tr. Diyarbakir), vier Stunden später sei sie bereits im schwer betroffenen Semsûr (Adiyaman) gewesen. „Man konnte die Schreie von Kindern unter dem Geröll hören“, fuhr Günay fort. Aber es sei keine staatliche Hilfe gekommen und viele Menschen seien unter den Trümmern erfroren. Die Nothilfe musste von der HDP sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen organisiert werden. Menschen aus Amed und Mêrdîn (Mardin), die selbst von dem Beben betroffen waren, hätten Hilfsgüter für die schwer verwüsteten Gebiete wie Markaz (Pazarcik) und Semsûr gesammelt. Die kurdische Gesellschaft habe ohne Blick auf die Herkunft der Menschen geholfen – im Gegensatz zum türkischen Staat, der fast ausnahmslos türkisch-sunnitisch dominierte Regionen unterstützt habe. 

Günay schloss mit den Worten: „Wir brauchen einen Konföderalismus derjenigen, die sich gegen den Staat organisieren. Denn man kann nicht einen retten und den anderen seinem Schicksal überlassen. Wir müssen daran glauben, dass wir eine Alternative schaffen können.“

Eines wurde in dem Workshop deutlich: Anders als hier in Europa oder speziell in Deutschland machen sich indigene Menschen keine Illusionen über zu erwartende Hilfe vom Staat. Sie erwarten absolut nichts mehr von den Staaten, die sie nur als Ausbeuter und Unterdrücker wahrnehmen. Sie setzen auf Selbstverwaltung, Kampf und Solidarität.

„Der Weg nach Rojava“

Janet Biehl, Ross Domeney und Danny Mitchell stellten bei ihrem Workshop im Centro Sociale Ausschnitte aus einem Film vor, der in nächster Zeit fertiggestellt wird. 2019, kurz nach der Zerschlagung der Territorialherrschaft der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Nord- und Ostsyrien, waren die drei gemeinsam in Rojava, um filmisch die Spuren, die Murray Bookchin dort hinterlassen hat, zu suchen.

Janet Biehl berichtete zunächst über ihr gemeinsames Leben mit Murray Bookchin, mit dem sie von 1978 bis zu seinem Tod 2006 zusammenlebte und arbeitete. Sie erzählte von einer Reise nach Amed nach seinem Tod, auf der ihr klargeworden sei, dass die kurdische Bewegung vor allem das Ziel der Frauenbefreiung vertrete. Reimar Heider, einer der Initiatoren der Konferenz, habe Öcalan auf Bookchin hingewiesen. Sie selbst habe nach ihrer Reise damit begonnen, Bücher zu dem Thema vom Deutschen ins Englische zu übersetzen, da es kaum englischsprachiges Material über die kurdische Bewegung gab. Unter anderem übersetzte sie „Revolution in Rojava“ von Anja Flach, Michael Knapp und Ercan Ayboga sowie die ersten beiden Bände der Biografie von Sakine Cansiz. Auf einer Buchvorstellungsreise in England habe sie Mitchell kennengelernt und gemeinsam mit Domeney sei dann beschlossen worden, den Film zu machen, der ohne offizielle Filmförderung entstanden sei.

Der Film begleitet Biehl auf Besuchen von Frauen- und Volkseinrichtungen, wie etwa Kommunen und dem Jineolojî-Zentrum in Hesekê. Insgesamt gebe es rund 60 Stunden Material. Eine Szene aus dem Film zeigt Frauen in Raqqa, die den Abschluss ihrer Bildungseinheit mit Musik und Tanz feiern. Die Szene drückt große Lebensfreude aus. Die beiden männlichen Filmemacher sitzen derweil in der Nähe mit einigen Männern. „Früher hatten wir die Kontrolle über die Frauen, jetzt entscheiden sie über sich selbst“, so einer der Protagonisten. Parallel zu den Filmarbeiten erstellte Janet Biehl eine Graphic Novel über die Reise. Die Comic-Reportage und der Film sind parallel entstanden und zeigen die Ereignisse aus zwei Perspektiven.

Ross Domeney beschreibt seine Emotionen während der Reise als eine bittersüße Erfahrung: viele Beerdigungen und viel Verluste auf der einen Seite, und auf der anderen die große Begeisterung über die Revolution.

„Überwindung des Kapitalismus“

Der Workshop „Überwindung des Kapitalismus“, der am Nachmittag im Centro Soziale stattfand, war mit der Teilnahme von etwa 40 Personen sehr intensiv.  Ein wichtiger Baustein des Workshops war zu Beginn und zwischendurch die wiederholte Anregung der Referentin, eigene Fragestellungen zum Thema untereinander in Kleingruppen zu entwickeln und an anderer Stelle mögliche eigene Antworten dazu auszutauschen. Die Referentin schuf damit ein Arbeitsklima, in dem ihre Einführung über die Strukturen des Kapitalismus und seine zerstörerische Natur zu einem lebendigen Austausch mit den Teilnehmer:innen wurde. Ihre Darstellung im zweiten Teil des Workshops über die Wesenszüge von Commons als Gegenmodell zum Kapitalismus machte, auch mit Beiträgen der Teilnehmenden deutlich, dass die Transformation der Menschen im Umgang miteinander frei von Konkurrenz und Herrschaft eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung der Commons ist.

Anthropology4Kids

Im Workshop Anthropology4Kids lud die Referentin Nika Dubrovski alle Teilnehmenden ein, ein gemeinsames Bild zu malen. Dabei war die Aufgabe, eine utopische Stadt zusammen auf ein großes Papier zu bringen. Während einige eine Kunstschule, einen großen Wald, einen Spielplatz, ihr Heimatdorf oder -haus zeichneten, schufen andere eine Baumhauskommune, ein Theater der Unterdrückten, einen Gemüsegarten oder eine Schule. Dabei war es vor allem interessant, wie die einzelnen Perspektiven der Teilnehmenden ihre Zeichnungen beeinflussten: Ein erdbebensicheres Zusammenleben nach dem Erdbeben in Kurdistan, ein barrierefreier Zugang zu den Baumhäusern für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, oder ein autonomes Frauendorf. Dabei wurde jedes einzelne Haus, Dorf, oder andere Projekt immer mit den Nachbarschaften verbunden. Als Methode der Fortbewegung wurden keine Straßen, sondern ein Flusssystem mit Booten gezeichnet. Für die Lebensmittelbeschaffung wurde ein Ring voller Anbaumöglichkeiten rund um den Stadtkern geschaffen. Es gab Zelte statt Häuser, um in einem bewegten Alltag flexibel zu bleiben. Außerdem wurde über Geld und Selbstverteidigung diskutiert. Auch wenn am Ende nicht alle Aspekte, die für ein gesellschaftliches Zusammenleben notwendig sind, gemalt werden konnten, so konnte doch ein gemeinsamer Ausdruck einer utopischen Stadt realer gemacht werden.

Zur Kunst des Geschichtenerzählens

Im Workshop zur Kunst des Geschichtenerzählens gaben die Referentinnen Shahrzad Arshadi und Targol Mesbah zu Beginn einen kurzen Einblick in ihre Geschichte. Beide kommen aus dem Iran und leben heute im Exil in Kanada bzw. den USA. Das Geschichtenerzählen, auf Kurdisch Dengbêj, ist Teil verschiedener Kulturen im Mittleren Osten. Im Workshop wurden die Teilnehmenden selbst dazu ermutigt, auch ihre Geschichten erzählen. Nach einem kurzen Input war der Rest des Workshops vor allem davon geprägt, mit verschiedenen Methoden einen guten Zugang zu der jeweiligen eigenen Geschichte zu bekommen. Dabei wurde viel gelacht, gestrahlt und auch berührt. In einer ersten Runde wurden alle dazu eingeladen, die Augen zu schließen, sich einen pinken Elefanten vorzustellen und ihn zu beschreiben: Traurige Elefanten, hüpfende Elefanten und Elefanten, die einfach nicht pink werden wollten. In der zweiten Runde ging es darum, sich etwas vorzustellen, das kein pinker Elefant ist und es zu beschreiben: Dabei sprachen Teilnehmende von ihrer Großmutter und dem Vater, der Mutter, einer Giraffe oder dem Heimathaus. Anschließend begaben sich alle in gemeinsamen Gesprächen auf die Suche nach einem Ort, mit dem sie eine tiefe Verbundenheit haben. Dieser Ort sollte der Ausgangspunkt für die Geschichte sein. In verschiedenen Sprachen – auf Englisch, Türkisch, Deutsch, Spanisch oder Tschechisch, lasen am Ende viele Teilnehmende ihre Geschichte vor und berührten damit auch die anderen.

Die Konferenz wird heute im Bürgerhaus Wilhelmsburg fortgesetzt.