„Geflüchtete Menschen haben fast keine Rechte in der Türkei“

Geflüchtete Menschen haben in der Türkei so gut wie keine Rechte. Sie werden im Niedriglohnsektor ausgebeutet und es kommt häufig zu tödlichen Arbeitsunfällen, erläutert Rechtsanwalt Ahmet Baran Çelik im ANF-Interview.

Die Türkei ist für Migrant:innen aufgrund des „Flüchtlingsdeals“ mit der EU zu einem Gefängnis geworden. In rechtlicher Hinsicht wird das Leben für Schutzsuchende immer schwieriger. Sie werden im Niedriglohnsektor ausgebeutet und es kommt häufig zu tödlichen Arbeitsunfällen.

Vor einigen Wochen sind in Istanbul-Güngören vier Geflüchtete bei einem Brand in einer Textilproduktionsstätte ums Leben gekommen. Die Geflüchteten waren in der Toilette eingeschlossen. In den folgenden Tagen haben in Antep und Hatay insgesamt drei aus Syrien stammende Arbeiter aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen ihr Leben verloren.

Diese Vorfälle werden als Arbeitsunfälle deklariert und es ist unbekannt, ob es juristische Sanktionen gibt. Geflüchtete Menschen haben in der Türkei so gut wie keine Rechte. Das zeigt auch der Fall des siebzehnjährigen Afghanen Lutfillah Tadschik, der 2014 in Wan von der Polizei zu Tode gefoltert wurde. In dem Prozess wurde vergangene Woche das Urteil gesprochen. Einer der angeklagten Polizisten wurde wegen Körperverletzung zu fünf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, die Vollstreckung der Strafe wurde jedoch ausgesetzt. Der andere Polizist wurde freigesprochen. In Denizli wurde die Abschiebung von Geflüchteten aus Iran angeordnet, weil sie an einer Protestaktion für den Erhalt der Istanbul-Konvention teilgenommen haben.

Rechtsanwalt Ahmet Baran Çelik ist Mitglied der Juristenvereinigung ÖHD und engagiert sich im Verein Göç-İz-Der, der die Situation von Schutzsuchenden in der Türkei beobachtet. Im ANF-Interview hat er sich zu der rechtlichen Situation von Migrant:innen geäußert.

Wie funktioniert die Justiz hinsichtlich der Rechte von geflüchteten Menschen in der Türkei? Beispielsweise ist das Verfahren der im Grenzfluss Meriç ertrunkenen Flüchtlinge eingestellt worden.

Für Geflüchtete funktioniert das Rechtssystem in der Türkei leider kaum, jedenfalls nicht so, wie es sein müsste. Am 24. August 2021 sind in Edirne mehrere Menschen ertrunken, als sie in Edirne von der Militärpolizei in den Fluss getrieben wurden. Ein Betroffener hat sich an den ÖHD gewandt und wir haben den Fall verfolgt. Obwohl es Augenzeugen gab und die verantwortliche Einheit bekannt war, haben die Behörden das Verfahren ohne weitere Recherchen eingestellt. Das ist leider etwas, an das wir in der Türkei gewöhnt sind. Wann immer die Sicherheitskräfte eine Straftat begehen, zeigt der Staat einen klassischen Reflex und hält an seiner Politik der Straflosigkeit fest. Bei diesem Vorfall hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt und unsere Beschwerde dagegen wurde vom zuständigen Strafgericht abgewiesen.

Vor ein paar Wochen sind bei einem Brand in einer Werkstatt in Güngören vier auf der Toilette eingeschlossene Geflüchtete ums Leben gekommen. Der Landrat gab sofort eine Erklärung ab, laut der sie sich selbst eingeschlossen haben sollen. Was sagt diese Erklärung über die Situation der irregulär beschäftigten Migrant:innen im Niedriglohnsektor?

Zunächst einmal besteht keine Veranlassung, der Erklärung des Landrats zu trauen. Im Fall von Ali al-Hamdan, der in Adana mitten auf der Straße kaltblütig von der Polizei ermordet wurde, hat der Gouverneur eine Erklärung abgegeben und hinterher stellte sich die Wahrheit heraus, es gab sogar Kameraaufnahmen. Auf gleiche Weise hat sich der Gouverneur von Edirne zu den im Meriç in den Tod getriebenen Migranten geäußert, obwohl es anderslautende Augenzeugenberichte gab. Es gibt endlos viele ähnlicher Beispiele.

Auch dieser Vorfall ist schwerwiegend. Von einem schwerwiegenden Vorfall zu sprechen, reicht vielleicht nicht aus. Es heißt, dass ein Feuer ausgebrochen ist und die türkischen Arbeiter nach draußen gegangen sind, während die migrantischen Arbeiter sich stattdessen auf der Toilette eingeschlossen haben sollen. Mir fällt es schwer, das zu glauben. Migrantinnen und Migranten, die zu irregulärer Arbeit gezwungen sind, werden von gierigen Chefs ausgebeutet. Sie haben ohnehin sehr harte Arbeitsbedingungen und es kommt zu Todesfällen. Warum sollten die Migranten sich auf der Toilette einschließen, wenn die Türken bei dem Brand hinausgehen? Haben sie sich eventuell gar nicht selbst eingeschlossen, sondern sind vom Arbeitgeber eingesperrt worden, damit nicht herauskommt, dass er illegale Arbeiter beschäftigt? Oder haben sie selbst den Tod ins Auge gefasst, weil sie nicht als Arbeiter registriert waren und Angst vor dem Verlust ihrer Stellen oder vor der Abschiebung hatten? In jedem Fall handelt es sich um eine erschreckende Situation.

Wie bewerten Sie das Urteil im Fall des zu Tode gefolterten jungen Afghanen in Wan?

Die Türkei ist ein Paradies für Sicherheitskräfte, die Straftaten begehen. Der Staat schützt seine Beamten immer und vor allem, wenn sie Verbrechen begehen. Aber natürlich spielt auch die Identität des Opfers eine Rolle. Wenn die betroffene Person Kurde, Alevit oder Migrant ist, nimmt der staatliche Schutz eine absolute Form an und die Straflosigkeit wird zur grundlegenden Politik.

Die Beispiele hören nicht auf, es gab ja auch die iranischen Schutzsuchenden, deren Abschiebung aufgrund ihrer Teilnahme an einer Aktion zum Erhalt der Istanbul-Konvention angeordnet wurde. Davor ist eine Frau aus Iran aus der Türkei abgeschoben und brutal von ihrem Ehemann ermordet worden. Was sagen Sie zu Abschiebungen von Menschen, deren Leben in ihrem Herkunftsland bedroht ist?

Es handelt sich um eine Menschenrechtsverletzung. Das Recht auf Leben wird verletzt. Diese Situation ist rechtswidrig und stellt eine Straftat dar. Es wird häufig suggeriert, dass Migrantinnen und Migranten in der Türkei Rechte haben. Bei den von Ihnen genannten Vorfällen ist das Recht verletzt worden. Die ausbleibende Anerkennung der Rechte von Migranten wird zum Feindstrafrecht, wenn es sich um Oppositionelle handelt. Die Türkei ist von der Istanbul-Konvention zurückgetreten und will Schutzsuchende trotz Verbot und Lebensgefahr an Iran ausliefern, weil sie diese Konvention unterstützen. Ein syrischer Migrant soll nach Syrien abgeschoben werden, weil er einen Tweet gegen die AKP abgesetzt hat. Diese Abschiebungen widersprechen dem Recht und den universellen Menschenrechten und enden häufig mit der Verletzung des Rechts auf Leben. Diese Rechtsverletzungen werden dem Staat Türkei in der Zukunft Kopfschmerzen bereiten, aber in der Zwischenzeit befinden sich die Betroffenen in Lebensgefahr. Ich hoffe, dass diese Maßnahmen beendet werden.