Die 5. Verhandlung vor der 26. Strafkammer Istanbul gegen den inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und den ohne Verhaftung angeklagten HDP-Abgeordneten Sırrı Süreyya Önder fand im Verhandlungssaal des Gefängniskomplexes Silivri statt. Demirtaş und Önder wird aufgrund ihrer Reden während der Newroz-Feierlichkeiten 2013 in İstanbul „Organisationspropaganda“ zur Last gelegt. Demirtaş nahm an der Verhandlung nicht teil, Önder war anwesend.
Der Prozess wurde von zahlreichen Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland beobachtet, darunter neben vielen HDP-Abgeordneten auch von der britischen Rechtsanwältin Margaret Owen, Hakan Taş von der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus Berlin, dem schwedischen Abgeordneten Yılmaz Kerimo sowie Vertretern des schweizerischen Konsulats.
Fırat Epözdemir, einer der etwa 60 Rechtsanwälte, die Demirtaş und Önder vertreten, forderte die persönliche Anwesenheit von Demirtaş bei der nächsten Verhandlung. Das Gericht verlangte daraufhin die Teilnahme über das Videoliveschaltungssystem SEGBIS, doch Demirtaş lehnte dies ab. „Das Gericht hat seine Neutralität verloren“, erklärte der kurdische Politiker.
Politische Intervention
Anschließend ergriff Sırrı Süreyya Önder das Wort und fragte zunächst: „Wer richtet hier über uns? Das Gericht oder die Jandarma?“ Damit spielte er darauf an, dass Soldaten auf den für die Anwälte vorgesehenen Plätzen saßen. Anschließend erklärte er:
„Wir nennen dieses Verfahren einen politischen Interventionsfall. Wir haben es mit einem Willen zu tun, der uns liquidieren möchte. Sobald wir sprechen, wird wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts ein parlamentarischer Untersuchungsbericht angefertigt. Dass Sie im strafrechtlichen Sinne über uns urteilen können, ist für uns nichtig. Wir sind politische Repräsentanten, unser Wort hat Ehre, dem unsere Verbundenheit gilt. Es ist inakzeptabel, dass unser Wort aus seinem Kontext gerissen wird. Wenn jeder Sinn für Gerechtigkeit verletzt wird, ist es nicht möglich, über eine unabhängige Gerichtsbarkeit zu sprechen. Mein Anliegen ist, dass die faire Judikation nicht verletzt wird.“
Wie soll Krieg Frieden bringen?
Önder betonte, es werde Druck auf die HDP ausgeübt: „Demirtaş ist Kandidat für die Präsidentschaftswahlen und ein Politiker, bei dem offensichtlich ist, wem im Land er entspricht. Vom Nationalisten bis zum Eziden, vom Armenier bis zum Lasen hat er die Herzen vieler Menschen berührt. Die einzige und grundlegende Aussage dafür war Frieden. Dieser Diskurs wurde 2013 zu Newroz geführt“.
Önder, der auch auf die Besatzung Efrîns einging, sagte im weiteren Verlauf seiner Verteidigung: „Wie soll Krieg den Frieden bringen? Demirtaş ist die Zukunft des Landes. Durch die Werte, die er repräsentiert, ist die institutionelle Ordnung in ihren Grundfesten erschüttert worden. Wir sind dagegen, dass er der Justiz geopfert wird.“
Polizei verzerrt Tatsachen
Der HDP-Abgeordnete Önder unterstrich, dass das traditionelle Newroz-Fest im Jahr 2013 mit dem eingeleiteten Friedensprozess zur Hoffnung der Völker in der Türkei geworden sei. „Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklage auf eine Rede, die ich dort gehalten habe und die von der Polizei niedergeschrieben wurde. Wir haben bereits angegeben, dass die Rede fehlerhaft protokolliert wurde. Von verschiedenen Nachrichtensendern habe ich die Aufnahmen erhalten. Zum Beispiel sage ich „HDP“, niedergeschrieben wurde jedoch „HPG“. Der Satz „Sie haben das Land in einen Friedhof verwandelt, wir werden daraus einen Rosengarten machen“ heißt jetzt „Wir werden den Friedhof in einen Friedhof verwandeln“. Sind wir Totengräber? Dieses Vorgehen zielt darauf ab, den Prozess in die Länge zu treiben“. Anschließend beantragte der Politiker, dass das Gericht Videoaufnahmen besagter Rede von den verschiedenen TV-Anstalten anfordere, die von den Newroz-Feierlichkeiten berichtete haben.
Vor lauter Verfahren können wir nicht nach Hause gehen
Mit dem Hinweis, dass das Land kurz vor den Parlaments-und Präsidentschaftswahlen stehe, sagte Önder: „Wir sind die drittgrößte Partei im Parlament, die auch etwas hinsichtlich der Zukunft dieses Landes zu sagen hat. Wir sagen, dass dieses Land hinsichtlich der Polarisierung der Region als auch für die eigene Verwaltung am Rande einer Gefahr steht. Wir wollen eine Kampagne auf Augenhöhe führen. Dies ist die Einführung der Demokratie und unverzichtbar. Wir werden der Öffentlichkeit darüber berichten, dass die These des politischen Willens verrottet. Lassen Sie den Wahlkampf mal beiseite; vor lauter Verfahren können wir nicht nach Hause gehen“.
Die Justiz soll sich nicht als politisches Instrument benutzen lassen
Önder wiederholte seine Forderung, den Prozess auf ein Datum nach den Wahlen zu verschieben: „Andernfalls benutzt die Politik die Justiz als Instrument für ihren Wahlkampf. Ein Urteil wird bei der Bevölkerung Misstrauen verursachen. Sollte die Justiz nicht intervenieren, wird Demirtaş in der zweiten Runde einer der verbleibenden Kandidaten sein“.
Die Verteidigung von Önder wurde vom vorsitzenden Richter sehr oft unterbrochen. Anschließend forderte der Richter den Staatsanwalt dazu auf, sein Plädoyer zu halten. Die Strafverteidiger*innen erhoben dagegen Einspruch. Daraufhin behauptete der Richter, die Strafverteidiger*innen würden gegen die Gerichtsordnung verstoßen und ordnete die Zwangsräumung der Anwält*innen aus dem Saal an. Während Soldaten die Anwält*innen umzingelten, zogen die Richter ihre Amtsroben aus und verließen den Gerichtssaal.
Als Folge verließen die Anwält*innen und Prozessbeobachter den Gerichtssaal unter Protest. Nachdem die Richter in den Saal zurückgekehrt waren, legte der Staatsanwalt seine Stellungnahme vor und forderte für Demirtaş und Önder fünf Jahre Gefängnisstrafe wegen „Organisationspropaganda“.