Das Ermittlungsverfahren gegen die am Montag in Istanbul und Kırklareli festgenommenen Oppositionellen ist als Verschlusssache eingestuft worden. Durch die von der Oberstaatsanwaltschaft Istanbul angeordnete Geheimhaltungsverfügung hat die Verteidigung der Betroffenen keine Einsicht in die Akten. Zudem wurde eine 24-stündige Kontaktsperre über die Festgenommenen verhängt, innerhalb derer sie keine Möglichkeit auf einen Rechtsbeistand haben. Bei der Maßnahme, die üblich ist in Verfahren mit angeblichem Terrorismusbezug, handelt es sich um eine gängige Methode der türkischen Justiz, die Verteidigung zu torpedieren.
Noch in der Nacht zum Montag hatten die Verfolgungsbehörden des Erdoğan-Regimes zu einem neuerlichen Repressionsschlag gegen die kurdisch-demokratische Opposition ausgeholt. Mindestens 26 Objekte in der Bosporus-Metropole Istanbul sowie in der weiter nordwestlich gelegenen Provinz Kırklareli wurden dabei von Beamten der „Antiterrorpolizei“ überfallartig gestürmt und durchsucht. Nach bisherigem Stand sind zwanzig Personen in Gewahrsam genommen und in das Istanbuler Polizeipräsidium gebracht worden. Der gegen sie erhobene Vorwurf lautet auf Unterstützung einer „terroristischen“ Organisation – gemeint ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Unter den Festgenommenen sind zahlreiche politische und zivilgesellschaftliche Handelnde wie etwa Bezirksverbandsvorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) sowie einige ihrer Vorstands- und Parteiratsmitglieder, darunter Cengiz Topbaşlı, Oya Aytekin, Çetin Aslanboğa, Mesut Fırat, Halil Aksu und Gonca Yangöz. Auch Umut Ezber vom Jugendrat des HDK (Demokratischer Kongress der Völker), dem Organisierungsgremium hunderter Gruppen und Einzelpersonen, aus dem 2012 die Partei HDP hervorgegangen ist, sowie Kadriye Doğan, Ko-Vorsitzende der Demokratischen Alevitischen Vereine (DAD), und Eyüp Subaşı, Ko-Leiter des Vereins für kurdische Studien, wurden festgenommen.
Kurz nach den Festnahmen veröffentlichte der türkischen Innenminister Ali Yerlikaya auf X (ehemals Twitter) ein mit dramatischer Musik unterlegtes Video, das Szenen der Razzien in Istanbul und Kırklareli zeigen soll. Zu sehen sind gepanzerte Fahrzeuge und schwer bewaffnete Beamte der Antiterrorpolizei, die Wohnungen durchsuchen und Personen abführen. Hintergrund der von Yerlikaya angeordneten Festnahmeoperation ist der Guerillaangriff in Ankara am gestrigen Sonntag. Die Festgenommenen würden verdächtigt, den Beteiligten der Aktion geholfen zu haben.
Am Sonntagmorgen hatten zwei Kämpfer der „Brigade der Unsterblichen“ im hochgesicherten Regierungsviertel in der türkischen Hauptstadt die Generaldirektion für Sicherheit des Innenministeriums angegriffen. Einer der beteiligten Kämpfer hatte sich dabei in die Luft gesprengt. Wie das zentrale Hauptquartier der Volksverteidigungskräfte (Navenda Parastina Gel, NPG) später mitteilte, handelte es sich bei der „Fedai-Aktion“ um eine Warnung an das AKP/MHP-Regime, Verbrechen in Kurdistan und an der kurdischen Bevölkerung zu unterlassen.
HDP: Festnahmen sind „inakzeptabel und rechtswidrig“
Die Guerillaaktion in Ankara fiel mit der Eröffnung der neuen Legislaturperiode des türkischen Parlaments zusammen und ereignete sich in unmittelbarer Nähe zur Nationalversammlung. Noch am Abend startete die Luftwaffe des NATO-Staates eine Luftoffensive auf Teile von Südkurdistan; bombardiert wurden Guerillagebiete und Dörfer in Metîna, Biradost, Balekayetî, Amêdî und Qendîl. Wenige Stunden später gab es bereits erste Festnahmen in Istanbul und Kırklareli. Die HDP wies die Vorwürfe gegen ihre Mitglieder entschieden zurück und kritisierte die Festnahmen als „inakzeptabel und rechtswidrig“.
Titelfoto zeigt Polizisten während einer Razzia in der HDP-Zentrale in Colemêrg (tr. Hakkari) im Dezember 2020