2024 schon über 300 Femizide
Brutale Femizide erschüttern aktuell die Türkei. Allein in diesem Jahr wurden bereits über 300 Frauen Opfer tödlicher Gewalt in dem Land, hunderte weitere kamen unter verdächtigen Umständen ums Leben. Ein besonders brutaler Fall ereignete sich Anfang Oktober, als ein 19-Jähriger an einem Tag zwei junge Frauen aus seinem engen Umfeld ermordete. Viele Frauenorganisationen und Aktivistinnen werfen der Regierung vor, patriarchalen Gewalttätern durch den Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt Rückenwind gegeben zu haben und für die Gewalttaten gegenüber Frauen verantwortlich zu sein. Der Rückzug der Türkei aus dem 2011 vom Europarat ausgearbeiteten Vertrag erfolgte 2021 per Dekret des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, weder die türkische Nationalversammlung noch die Zivilgesellschaft waren in die Entscheidung eingebunden worden.
Femizide sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems
„Dieser Schritt hat einen unbestreitbaren Anstieg der patriarchalen Gewalt in der Türkei ausgelöst“, sagte nun der inhaftierte kurdische Rechtsanwalt und frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş. In einem Appell, den der 51-Jährige am Montag an Özgür Özel im Rahmen eines Besuchs des CHP-Vorsitzenden im Edirne-Gefängnis übergab, forderte Demirtaş die Regierung zur Rückkehr zur Istanbul-Konvention auf. In dem Aufruf, der auch auf X veröffentlicht wurde, schreibt Demirtaş:
„Fälle von Mord, Gewalt, Vergewaltigung, Belästigung und Bedrohung von Frauen haben ein erschütterndes Ausmaß an Brutalität erreicht. Straßen, Arbeitsplätze, Schulen, Krankenhäuser und sogar die Häuser, in denen sie leben, sind für Frauen zur Hölle geworden, und wir befinden uns in einem gesellschaftlichen Klima der Angst.
Als Mann fällt es mir schwer, mich zu diesem Thema zu äußern, weil ich weiß, dass ich mit meinem männlichen Geschlecht auf der Seite der Täter stehe. Die Gewalt, der Frauen ausgesetzt sind, ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems, nicht eines individuellen, und es ist klar, dass wir Männer auch aktiv werden müssen, anstatt den Kampf gegen dieses Problem allein auf den Schultern der Frauen zu lasten.
Wir haben die patriarchalische Mentalität Schritt für Schritt geschaffen
Ich appelliere an alle Männer; lasst uns einen Moment innehalten und nachdenken; lasst uns die Schuld und die Schuldigen nicht woanders suchen. Wir sind alle verantwortlich für die Schaffung dieser Ordnung und der Mentalität, die mit unseren Worten und Taten Gewalt schürt. Fangen wir an, uns selbst zu hinterfragen und zu verändern. Wir Männer sind nicht wild, barbarisch und rücksichtslos geboren. Wir haben die patriarchalische Mentalität Schritt für Schritt geschaffen und den Kreislauf der Gewalt in Gang gesetzt. Deshalb sind wir auch dafür verantwortlich, die Möglichkeit zu schaffen, ein gleichberechtigtes, faires und sicheres Leben aufzubauen.
Um eine dauerhafte Lösung zu finden, besteht die Verantwortung der Männer darin, nicht zu schweigen, sondern sowohl Selbstkritik zu üben als auch Forderungen nach einer Veränderung des Systems zu unterstützen. Diese Unterstützung sollte jedoch dadurch erfolgen, Frauen zur Seite zu stehen und ihnen zuzuhören, anstatt ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Dieser Appell wurde verfasst, um uns an unsere Verantwortung als Gesellschaft zu erinnern.
Wir dürfen nicht vergessen: Frauen fordern uns auf, sie rebellieren, klagen und kämpfen. Lasst uns auch uns selbst gegenüber aufrichtig sein und dem Kampf der Frauen zur Seite stehen. Mein Aufruf an alle Männer, die sich nicht an dieser Schande, dieser Brutalität und Barbarei beteiligen wollen: Lasst uns überall laut aufschreien und sagen: ‚Wir hören den Schrei der Frauen‘.“
22-Punkte-Plan, Ende der Straflosigkeit
Demirtaş forderte auch den CHP-Chef Özgür Özel sowie Staatspräsident Erdoğan, die Vorsitzenden aller politischen Parteien, Parlamentsabgeordnete, Mitglieder der Justiz, Rechtsanwaltskammern, Stadtgemeinden, Organisationen der Zivilgesellschaft und Sicherheitsbehörden auf, „dringende und wirksame Maßnahmen“ gegen patriarchale Gewalt zu ergreifen. „Bitte arbeiten Sie zusammen, hören Sie auf die Rebellion der Frauen und ihre gerechten Forderungen. Lassen Sie uns damit beginnen, die von Männern dominierte Sprache, das System, die Politik zu ändern. Wenn wir den sozialen Frieden schaffen wollen, müssen wir hier beginnen. Denn Frieden kann erst dann erreicht werden, wenn Freiheit und Demokratie für alle verwirklicht sind.“
Seinem Appell legte Demirtaş auch einen Plan mit 22 Punkten vor, die unmittelbar umzusetzen seien. Als erstes fordert er die Rückkehr zur Istanbul-Konvention und ein Ende der Straflosigkeit für Täter. Frauenorganisationen wie die Plattform gegen Femizid (KCDP) weist seit Jahren darauf hin, dass Gewalt gegen Frauen in der Türkei durch eine Politik der Straflosigkeit unterstützt wird und den Tätern regelrecht auf die Schulter geklopft werde. Immer wieder kritisiert die NGO, dass Richter bei der Strafzumessung einen zu weiten Ermessensspielraum haben und viel zu oft Strafnachlässe für angeblichen Affekt, für Reue und oft sogar für gute Führung geben, nur weil die Täter in Anzug und Krawatte vor Gericht erscheinen.
Demirtaş weist auch auf die für Frauen existenzielle Umsetzung des Gesetzes Nr. 6284 hin. Das Frauenschutzgesetz regelt den Schutz von Frauen und die Bestrafung von Tätern, unter anderem durch ein Annäherungsverbot für Gewalttäter und Schutzmaßnahmen für die Opfer. Dabei sind Maßnahmen von materieller Unterstützung bis hin zu einer neuen Identität für die Frauen definiert. Die AKP hat mit ihren Koalitionspartnern immer wieder die Abschaffung dieses von Frauen erkämpften Gesetzes ins Spiel gebracht und propagiert stattdessen das klassische Familienmodell mit männlichem Oberhaupt als „heilig“. Der gesamte Appell von Selahattin Demirtaş ist auf seinem X-Account nachzulesen.