Die AKP/MHP-Regierung steht nicht nur für einen islamistischen Gesellschaftsdiskurs, nationalistischen Rassismus und Kriegspolitik, sondern gleichzeitig auch für ein extrem neoliberales Wirtschaftsmodell. Zur Umsetzung dieser neoliberalen Politik wird echte Gewerkschaftspolitik systematisch eingeschränkt, mit Repression überzogen und verhindert. Neben der Gründung sogenannter „gelber Gewerkschaften“, also von Gewerkschaften, welche die Interessen von Staat und Kapital verfolgen, spielt insbesondere die juristische Einschränkung von Selbstorganisierung der Arbeiter:innen eine wichtige Rolle und hierbei das Gesetz 6356 zu Gewerkschaften und Tarifverträgen aus dem Jahr 2012. Hier wird den Kapitalisten ein Recht zum Einspruch gegen gewerkschaftliche Organisierung eingeräumt. Damit wird verhindert, dass sich im privaten Sektor aktive oppositionelle Gewerkschaften bilden. Irfan Kaygısız, Experte für Organisierung der im Gewerkschaftsverband DISK organisierten Gewerkschaft Birleşik Metal-Iş beschreibt die Konsequenzen der juristischen Einschränkungen gewerkschaftlicher Arbeit im ANF-Interview.
„Größtes Hindernis ist Drohung mit Entlassung“
Was sind die wichtigsten Hindernisse für die gewerkschaftliche Organisierung in der Türkei?
Es gibt zwei Hauptthemen: die rechtliche Ebene und deren Umsetzung. Beide Ebenen haben ihre Folgen. Was die die praktische Ebene betrifft, so ist diese ebenfalls wie in allen anderen Bereichen auch von Willkür und Missachtung der Gesetze geprägt. Einige vom Gesetzgeber eingeführte Verfahrensweisen werden als Willkürmittel eingesetzt. Der Staat schaut dabei weg. Das größte Hindernis für die gewerkschaftliche Organisierung ist aber die Arbeitslosigkeit, oder genauer gesagt, die Drohung mit Entlassung. Jeder Versuch, sich zu organisieren, wird von den Bossen mit einem Frontalangriff beantwortet. Jeder Arbeiter, der versucht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, bekommt die Angst vor Entlassung zu spüren. Folglich halten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter offen gesagt fern von einer gewerkschaftlichen Organisierung bis zu dem Punkt, an sie vollkommen am Ende ihrer Kräfte sind.
Die gewaltsame Anwendung des Mittels der Entlassung hat natürlich eine abschreckende Wirkung. Außerdem ist der juristische Schutz von Arbeiterinnen und Arbeitern sehr schwach. Obwohl das Gesetz einen gewissen Schutz für Arbeitervertreterinnen und -vertreter vorsieht, gibt es keinerlei Schutz für die Werktätigen, die versuchen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Darüber hinaus spalten die Kapitalisten die Beschäftigten in einzelne Zweige auf, um eine Organisierung zu verhindern. Innerhalb ein und desselben Werks werden einige Arbeiter in den Bürobereich, andere in den Metallbereich und wieder andere in verschiedene andere Bereiche eingeteilt. So sind dann auch verschiedene Gewerkschaften für sie zu zuständig. Das wird gemacht, um die Mehrheit einer Gewerkschaft zu verhindern.
Hohe Hürden zur Gewerkschaftsgründung
Gibt es denn keine Kontrolle innerhalb des gesetzlichen Rahmens?
Nein, so etwas gibt es nicht. Denn um sich in irgendeiner Branche zu organisieren, muss man die Ein-Prozent-Schwelle erreichen. Ein Prozent scheint eine kleine Zahl zu sein, aber sie wird auf der Grundlage der Anzahl der Arbeiterinnen und Arbeiter in den einzelnen Branchen berechnet. In der Metallindustrie sind beispielsweise rund 1.800.000 Menschen beschäftigt. Ein Prozent davon entspricht etwa 35.000 Arbeitnehmern. In dieser Hinsicht ist es nicht so einfach, dies zu erreichen. Wenn wir zum Beispiel die Frage der unabhängigen Gewerkschaften betrachten, wird es noch schwieriger. Natürlich kann eine neue und unabhängige Gewerkschaft aufgrund von Kritik an den bestehenden Gewerkschaften gegründet werden, aber es ist nicht so einfach, diese Schwelle zu erreichen. Denn das ist eine sehr große Zahl.
So gab es 2015 einen Aufstand der Metallarbeiter. Die Beschäftigten von Renault hatten gesagt, sie wollten eine unabhängige Gewerkschaft gründen. Selbst wenn sie dort beispielsweise 10.000 Arbeitnehmende organisieren, können sie die Schwellenzahl von etwa 30.000 nicht erreichen. Auch wenn sich die größte Fabrik organisiert, wird durch die Schwelle des Branchenanteils eine Gewerkschaftsgründung verhindert. Dies bedeutet, dass neue, unabhängige und dynamische Gewerkschaften verhindert werden.
Das grundlegendste Problem ist natürlich darüber hinaus die Frage der Zulassung am Arbeitsplatz. Bei den Zulassungen gibt es eine Schwelle, die den Arbeitsplatz betrifft und eine, die das Unternehmen betrifft. Der Arbeitsplatz ist ein physischer Raum, das Unternehmen besteht aus mindestens einem Chef und mehreren Orten. Bei Tarifverhandlungen auf betrieblicher Ebene sind mindestens 50+1 Prozent der Mitglieder erforderlich, aufs ganze Unternehmen bezogen 40+1 Prozent. Wenn man sich organisieren will und diese Zahlen zusammen hat, dann wendet man sich ans Ministerium. Dann beginnt ein Evaluationsmechanismus des Ministeriums, das feststellt, man habe die 50+1 Schwelle überschritten. Das nennen wir Feststellung der Zulassung.
„Juristische Tricks der Kapitalisten verhindern Gewerkschaftsgründung“
Was passiert dann?
Das eigentliche Problem beginnt erst danach. Nach Eingang der Feststellung wird diese an zwei Stellen gesendet. Sie wird an die Gewerkschaften, die mehr als ein Prozent der Beschäftigten in derselben Branche beschäftigen, und an den Chef geschickt. Der Chef erhebt Einspruch gegen diese Feststellung. In den letzten Jahren ist es üblich geworden, dass die Kapitalisten nicht zuständige Gerichte anrufen. In der Vergangenheit gab es so etwas nicht, es scheint eine neue Masche zu sein. So befindet sich der Hauptsitz des Unternehmens beispielsweise in Izmir, Kocaeli oder Gebze, aber der Chef reicht eine Klage in Istanbul ein. Daher muss die Akte dann zunächst von Istanbul an das zuständige Gericht gelangen. Das dauert ein bis anderthalb Jahre. Mit anderen Worten: Sobald der Chef eine Klage an einem nicht zuständigen Ort einreicht, gewinnt er ein Jahr. Jeder Zeitverlust nach der Organisierung wirkt sich umgehend negativ für die Arbeitenden aus.
Der Chef hat also das Recht, eine solche Klage einzureichen?
Das Gesetz sieht vor, dass das Gericht innerhalb von drei bis sechs Tagen nach dem Einspruch des Unternehmens schnell entscheidet. Dies ist jedoch in der Praxis nicht der Fall. Es gibt bereits einen Missbrauch dieses Einspruchsmechanismus an sich. Erstens: Einspruch vor nicht zugelassenen Gerichten. Zweitens ist dieser „Einspruch“ kein Recht, das den Kapitalisten zusteht. Vielmehr handelt es sich um einen Artikel, der als Vorsichtsmaßnahme gegen jedwede negative Situation in das Gesetz aufgenommen wurde. Natürlich haben die Kapitalisten nicht das natürliche Recht, Einspruch gegen die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter:innen einzulegen. Aber dieser Mechanismus wird so gehandhabt, als sei der Einspruch selbst ein Recht. Daher führt der Einspruch zu zwei Dingen: zu langen Gerichtsprozessen, und während dieses Prozesses übt der Chef vor allem Druck auf die Arbeiter:innen aus. Dabei geht es um die Entlassung von Arbeitervertreter:innen und denjenigen, die eine Organisierung vorantreiben, sowie Druck auf die übrigen, selbst zu kündigen. Durch das Gerichtsverfahren gewinnen die Kapitalisten zwei Jahre, um die Organisierung der Arbeitenden zu brechen.
Natürlich gibt es auch die Solidarität unter den Chefs. Birleşik-Metal-İş war zum Beispiel die einzige Gewerkschaft in Konya. Es gab eine einzige organisierte Fabrik. Alle Bosse der Industrie schlossen sich zusammen und sagten zum Chef eines Unternehmens: „Wir bringen dich an jeden beliebigen Ort und alle Kosten werden von uns übernommen, solange es hier keine gewerkschaftlich organisierten Arbeitsplätze gibt.“ Das ist die Solidarität des Chefs. Dies geschieht ganz offen in kleinen Einrichtungen. Wenn man die Summe all dieser Faktoren betrachtet, dann wird deutlich, dass dies einen Angriff auf die Organisierung darstellt.
Natürlich kann auch das Misstrauen gegenüber den bestehenden Gewerkschaften zu diesen Faktoren gezählt werden, nicht wahr?
Ja, leider verstärkt die Tatsache, dass die Gewerkschaften von Staat und Kapital gesteuert werden, das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften. In der Tat gab es im Januar und Februar dieses Jahres Streiks in etwa 30 bis 40 Betrieben, die alle in nicht organisierten Betrieben stattfanden. Es ist verständlich, dass sie unorganisiert waren. Aber daraus bildete sich auch keine Organisation. An einigen Orten, zum Beispiel in Istanbul, versuchte Deri-İş einzugreifen, beispielsweise in der Strumpfproduktion. In Izmir-Aliağa versuchte Liman-İş, aktiv zu werden. In Antep versuchte BİRTEK-SEN, sich bei den Textilarbeiter:innen einzubringen, konnte aber nicht den gewünschten Erfolg erzielen. Das liegt natürlich nicht an einem mangelnden Vertrauen in die Kolleginnen und Kollegen in Antep, sondern an einem viel älteren Problem.
Wenn wir uns also unserer Organisierung ansehen, stellen wir fest, dass sie im öffentlichen Sektor intensiver ist. Der private Sektor entwickelt sich natürlich auch, aber wenn wir die Gesamtzahl betrachten, so liegt die Mehrheit der Arbeitsplätze mit Tarifverträgen im öffentlichen Sektor bei etwa 9,5 Prozent, während diese Zahl im privaten Sektor etwa 5,5 Prozent beträgt.
„Absolutes Kündigungsverbot während Zulassungsverfahren notwendig“
Was wäre denn die Alternative zu diesem Zulassungsverfahren?
Was die Frage der Zulassung betrifft, so ist natürlich eine Entscheidung erforderlich, aber diese Entscheidung sollte durch einen unabhängigeren Mechanismus getroffen werden. Sie sollte sich der Kontrolle des Staates entziehen. Die Frage der Mitgliedschaft ist die gleiche. Wir geben alle Mitgliedschaften beim Staat an. Aber dann stellen wir fest, dass der Beamte dort die Informationen über die Mitgliedschaft an den Chef weitergibt.
Auch der Einspruchsmechanismus sollte unabhängiger sein. Wird gegen eine Änderung des der Branche Einspruch erhoben, so ist die Frage der Genehmigung vom Gericht zu entscheiden. Das Gericht sollte jedoch nicht als Grund für die Ablehnung der Organisierung herangezogen werden. Zudem verlängert sich dieser Prozess durch unzuständige Gerichte. Mit anderen Worten: Das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wird von vornherein entzogen. Wir wissen nicht, wie das Gericht nach zwei Jahren entscheiden wird. Selbst wenn das Gericht der Gewerkschaft Recht gibt, gibt es in dieser Zeit keine Mitglieder mehr. Dies ist eine sehr ernste, blutende Wunde. Wenn hier nicht eingegriffen wird, werden wir natürlich weiterhin mit Kündigungen bedroht. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssten durch ein absolutes Kündigungsverbot während des Genehmigungsverfahrens für den Tarifvertrag geschützt werden. Auch ein solches Verbot würde die Abschreckung nicht ganz aufheben. Es würde das Problem nicht lösen, aber eine gewisse Erleichterung bringen.