„Bis die faschistische AKP-Regierung einen Schritt zurücksetzt“

In vielen Städten Europas zogen auch heute wieder unzählige Menschen gegen die Zwangsverwaltung kurdischer Ratshäuser auf die Straße. Die zentrale Forderung lautete: „Faschistische Zwangsverwalter, raus aus Kurdistan!“

Anfang der Woche ernannte die türkische Regierung für die kurdischen HDP-Hochburgen Amed (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) kommissarische Zwangsverwalter und setzte die demokratisch gewählten Oberbürgermeister Adnan Selçuk Mızraklı, Ahmet Türk und Bedia Özgökçe Ertan ab. Alle drei Politiker*innen waren aus den Kommunalwahlen am 31. März als deutliche Sieger hervorgegangen, dennoch wurde der politische Wille der kurdischen Wähler*innen missachtet und ihre Lokalverwaltungen lahmgelegt. Die rechtliche Grundlage für diesen Schritt ergebe sich aus Ermittlungen gegen die Bürgermeister*innen wegen Terrorvorwürfen und entsprechenden Beweisen, begründete das Innenministerium die Ernennung von regierungstreuen Statthaltern an Stelle der demokratisch gewählten Vertreter*innen. Vermeintliche Beweise wurden bisher aber nicht vorgelegt.

Gegen die „Besatzungslogik” der türkischen Regierung ziehen seit Montag nicht nur in Nordkurdistan und der Türkei Menschen auf die Straße, um ihren Unmut darüber zum Ausdruck zu bringen. Auch in Deutschland und vielen anderen Ländern Europas kommt es täglich zu Protesten. In Osnabrück informierten heute Aktivist*innen an einem Infostand in der Innenstadt über die Lage in den zwangsverwalteten Städten und die Massenfestnahmen, zu denen es zeitgleich mit der Absetzung der Bürgermeister gekommen ist. Die Aktivist*innen verteilten Flyer und traten in Gespräche mit Passant*innen. Die aktuelle Situation in der Türkei macht auch in Deutschland Schlagzeilen und wirft Fragen bei der deutschen Bevölkerung auf, weshalb sich zahlreiche Außenstehende vor Ort informierten und nach persönlichen Einschätzungen der politischen Situation fragten.

Köln

In Köln hat zum fünften Mal in Folge eine Protestkundgebung gegen die Absetzung kurdischer Bürgermeister*innen durch das türkische Innenministerium stattgefunden. An der Aktion vor dem Kölner Dom beteiligten sich unter anderem Mitglieder des kurdischen Vereins Mala Kurda und des Frauenrats Viyan sowie Aktivist*innen von AGİF, Alınteri, Aveg-KON, TEV-ÇAND und HDK. In Redebeiträgen wurde zur Teilnahme an einer zentralen Demonstration am morgigen Samstag in Düsseldorf aufgerufen.

Ruhrgebiet

In Essen und Duisburg fanden Kundgebungen statt. Aktivist*innen verteilten Flyer und informierten Interessierte zu den Hintergründen der Proteste. In Redebeiträgen wurden demokratische Kreise zur Solidarität mit dem kurdischen Volk aufgerufen.

München

In München versammelte sich eine Menschenmenge vor der türkischen Botschaft und legte einen schwarzen kranz nieder. Zu der Aktion hatte der alevitische Dachverband AABK (Konföderation der Aleviten in Europa) aufgerufen. Die Aktivist*innen riefen Parolen wie „Der Sieg gehört uns” und „Diktator Erdogan” und kündigten an, ihre Proteste erst zu beenden, wenn die Zwangsverwaltung rückgängig gemacht wird.

Marseille

Eine ähnliche Aktion fand in der französische Stadt Marseille statt. Dort legten Aktivist*innen und Mitglieder des Alevitischen Kulturvereins (AKM) einen schwarzen Kranz vor dem türkischen Konsulat ab. Ein Aktivist verlas eine Presseerklärung und rief Verfechter der Demokratie auf, den Widerstand gegen das Erdogan-Regime gemeinsam auszutragen.

Hamburg & Berlin

Dem Aufruf des AABK folgten auch in Hamburg und Berlin zahlreiche Menschen.

Paris

In Paris fand eine Kundgebung statt. Die Menschenmenge versammelte sich am Nachmittag vor dem Rathaus. Viele Teilnehmer*innen trugen Bilder der Proteste gegen die widerrechtliche Aneignung der kurdischen Lokalverwaltungen und skandierten Parolen. Unterstützung erhielten sie von zahlreichen Tourist*innen, die sich der Kundgebung anschlossen.

In einem Redebeitrag rief Fevziye Erdemirci als Ko-Vorsitzende des kurdischen Dachverbands in Frankreich (CDK-F) zu ununterbrochenen Aktionen gegen den „Raub des freien Willens durch die faschistische AKP-MHP-Regierung” auf.

Saarland

In Saarbrücken beteiligten sich bereits am Donnerstagabend rund 300 Personen an einer Kundgebung des Kurdischen Gesellschaftszentrum Saarland unter dem Motto „Der Kampf um die Freiheit ist International”. In Redebeiträgen wurde angekündigt, dass die Aktionen weitergehen, „bis die faschistische AKP-Regierung einen Schritt zurücksetzt.“ Die kurdische Jugendbewegung Tevgera Ciwanên Şoresger rief zur Beteiligung an den Protesten auf.

Die Entlassungen der Bürgermeister*innen werden von HDP-Wähler*innen und der kurdischen Community als „politischer Putsch“ aufgefasst. Auch die HDP erklärte, dass die Begründung für die Zwangsverwaltung vollkommen erfunden sei. Die Maßnahme zeige die feindliche Haltung zum erklärten politischen Willen des kurdischen Volkes. Das Innenministerium mache sich damit zum Zentrum eines Putsches, mit dem Rechte und Freiheiten usurpiert und Entscheidungen getroffen werden, die keine Spur von Demokratie aufweisen.

Die Absetzung der HDP-Politiker*innen kam allerdings nicht unerwartet. Schon im Wahlkampf  hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mehrfach die Entsendung von Zwangsverwaltern angedeutet. Jeder Kandidat, der Verbindungen zu „Terrororganisationen” aufweise, werde im Falle seiner Wahl wieder abgesetzt, kündigte der AKP-Chef bereits im letzten Jahr an. Staatlich eingesetzte Treuhänder sind in Kurdistan ohnehin keine Neuheit. Nach dem Ausnahmezustand infolge des sogenannten Putschversuchs im Sommer 2016 wurden 96 von 103 Bürgermeistern der HDP in den kurdischen Städten abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt. Viele von ihnen wurden damals inhaftiert. Dutzende sitzen auch heute noch in Untersuchungshaft.