Das Oberlandesgericht (OLG) München muss neu über die Strafe für die deutsche IS-Rückkehrerin Jennifer W. entscheiden, die dem Sterben eines versklavten ezidischen Mädchens im Irak tatenlos zugesehen haben soll. Der Bundesgerichtshof (BGH) erklärte am Donnerstag in Karlsruhe, dass das Münchner Urteil Rechtsfehler enthalte. Das OLG habe nicht die „menschenverachtenden Beweggründe und Ziele“ der Angeklagten berücksichtigt, so der BGH. Die Revision des Generalbundesanwalts hatte damit Erfolg. (AZ. 3 Str 246/22).
W. war im Oktober 2021 in München zu zwei Freiheitsstrafen verurteilt worden, aus denen eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren gebildet wurde. Wegen der Mitgliedschaft in der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) bekam die Frau aus dem niedersächsischen Landkreis Vechta zweieinhalb Jahre Haft. Für Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Versklavung mit Todesfolge verhängte das OLG neun Jahre.
Über diesen Teil der Strafe und damit auch über die Gesamtstrafe muss ein anderer Strafsenat des Münchner Gerichts nun noch einmal verhandeln und entscheiden. Konkret geht es um die Einordnung als „minderschwerer Fall“. Dass das OLG dies angenommen hat, sorge beim BGH für durchgreifende rechtliche Bedenken, sagte der Vorsitzende Richter Jürgen Schäfer bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. W. habe die Absicht des IS gekannt und gebilligt, die Ezidinnen und Eziden als religiöse Gruppe zu zerstören.
Das bedeutet, dass W. nun möglicherweise eine härtere Strafe droht. In den übrigen Punkten ist das Urteil gegen die 31-Jährige rechtskräftig. Auch die gebürtige Lohnerin hatte gegen das Urteil Revision eingelegt – ihr war es zu hart. Der BGH folgte dem nicht und verwarf ihre Einwände.
Erster Prozess gegen IS-Rückkehrerin
Der Prozess gegen Jennifer W. war der bundesweit erste gegen eine IS-Rückkehrerin. Die Deutsche konvertierte zum Islam und reiste 2014 im Alter von 23 Jahren nach Syrien. Dort heiratete sie ihren irakischen Mann Taha A.-J., der kurz zuvor eine vom IS aus der Şengal-Region verschleppte Ezidin und deren Tochter gekauft hatte. Jennifer W. sah laut dem OLG tatenlos dabei zu, wie ihr Ex-Ehemann das fünfjährige Mädchen im Hof eines Anwesens in der irakischen Stadt Falludscha ankettete und dort verdursten ließ. Das kleine Mädchen starb an einem Tag im August 2015, als in Falludscha Höchsttemperaturen von mehr als 50 Grad im Schatten erreicht wurden.
Ex-Mann rechtskräftig verurteilt
Taha A.-J. wollte das kranke Kind dafür bestrafen, dass es sich auf einer Matratze eingenässt hatte. Dafür fesselte er es in der prallen Sonne mit den Händen in Kopfhöhe so an ein Fenstergitter, dass es mit den Füßen in der Luft hing. Bis er das Mädchen wieder losband, hatte es einen tödlichen Hitzschlag erlitten. Die Mutter soll dabei zugesehen haben, wie das Kind qualvoll starb. Sie hatte der Iraker ebenfalls bestraft: Die Frau musste 30 Minuten barfuß im Hof verbringen. Der Boden war so heiß, dass ihre Füße verbrannten. Als die Frau um ihre tote Tochter weinte, soll W. ihr eine Pistole an den Kopf gehalten und gedroht haben, sie zu erschießen, wenn sie nicht damit aufhöre. Der Ex-Mann von Jennifer W. wurde Ende 2021 wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge zu einer lebenslangen Haft verurteilt.
Überfall auf Şengal
Als der selbsternannte IS im August 2014 das Kerngebiet der ezidischen Bevölkerung im Şengal-Gebirge im Nordwesten des Iraks überfiel und einen Völkermord verübte, fielen diesem Genozid und Femizid neuen Schätzungen nach etwa 10.000 Menschen zum Opfer. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden entführt, mehr als 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und weitere Tausende werden bis heute vermisst. Dem vorausgegangen war der Abzug der Peschmerga-Einheiten aus der Region, die die Zivilbevölkerung schutzlos den Schergen des IS überlassen hatten. Der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den Verteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava gelang es hingegen, zehntausende Ezidinnen und Eziden, die im Gebirge gefangen waren, das Leben zu retten, indem sie einen Fluchtkorridor freikämpften.