AZADÎ e.V., der in Köln ansässige Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland, erklärt zum Ende des Prozesses gegen den kurdischen Aktivisten Şemsettin Baltaş vor dem Oberlandesgericht Stuttgart:
Am 5. November endete der im April begonnene §§129a/b-Prozess gegen Şemsettin Baltaş nach 36 Verhandlungstagen mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung. Nach der Urteilsverkündung wurde der Haftbefehl von 2018 aufgehoben und Şemsettin Baltaş konnte die JVA verlassen.
Der 6. Strafsenat hatte es als erwiesen angesehen, dass sich der Aktivist als Mitglied einer „terroristischen Vereinigung im Ausland“ (PKK) in der Zeit von Mai 2015 bis Dezember 2017 im Raum Sinsheim betätigt hat und 2018 bis zu seiner Festnahme ein halbes Jahr als Gebietsverantwortlicher der PKK für das Gebiet Heilbronn tätig gewesen ist. Im Zuge seiner Aktivitäten habe er außerdem – als abgelehnter Asylbewerber – in 32 Fällen gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung verstoßen. In seiner Funktion habe er Spenden gesammelt, Veranstaltungen und Busse für Großveranstaltungen organisiert, Vereinsmitglieder zur Teilnahme mobilisiert oder Propagandamaterial verteilt.
Als strafmildernd hatte das Gericht die lange Dauer der U-Haft, die kurze Zeit der Gebietsverantwortlichkeit und die „überwiegend geständigen“ Einlassungen des Angeklagten bewertet. Diese bestanden in der Schilderung der aktuellen Situation in Nordsyrien/Rojava, aber auch der Kurdinnen und Kurden, die in Heilbronn leben und aus Städten der Türkei kommen, „die von Erdoğan dem Erdboden gleichgemacht“ worden sind. Alle seien PKK-Sympathisanten, politisch so aktiv „wie er“ und darum bemüht, „ihre kulturellen Werte aktiv zu schützen“.
Die Festnahme von Şemsettin Baltaş am 21. Juni 2018 beruhte auf der vom Bundesjustizministerium im September 2011 erteilten Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung u.a. von Funktionär*innen, die sich als Raum- oder Gebietsverantwortliche der PKK politisch betätigen. Seine Verteidigerin, Rechtsanwältin Elke Nill, hatte bereits im Vorfeld die Anklage als „martialisch“ bezeichnet.
Angesichts der rechtsterroristischen Morddrohungen gegen Politiker*innen und linke Aktivist*innen, der Tötung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der vom VS ausgemachten 12.700 gewaltbereiten Rechtsextremisten, der unzähligen Nazi-Konzerte, Aufmärsche, Vernetzungstreffen, der Hasstiraden, rassistischen und antisemitischen Ausfälle von Politikern, die gerichtsfest „Faschisten“ genannt werden dürfen, müssen §129b-Prozesse gegen kurdische und linke türkische Aktivist*innen endlich der Vergangenheit angehören.
Das gilt ebenso für die verbissen betriebene strafrechtliche Verfolgung im Zusammenhang mit inkriminierten Symbolen kurdischer Organisationen, mit der bundesweit Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte befasst werden. Der viel beklagte Personalnotstand dieser Behörden scheint keine Rolle zu spielen, wenn es darum geht, Kurd*innen und Menschen, die sich mit ihnen solidarisieren, zu kriminalisieren.
Dem türkischen Regime zu beweisen, dass die deutsche Politik trotz zeitweiser Unstimmigkeiten fest an seiner Seite steht und die Forderungen Ankaras nach einem harten Vorgehen gegen die PKK und linke Organisationen erfüllt, steht im Vordergrund. Mit dieser Haltung macht sich die Bundesregierung mitschuldig an Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und an den Folgen der völkerrechtswidrigen Invasion der türkischen Armee in Nordsyrien/Rojava.
Wir setzen dagegen: Ende der Kriminalisierung, Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots, Einstellung aller §§129a/b-Verfahren, Freilassung aller Gefangenen, Stopp jeglicher Waffenexporte an die Türkei und Solidarität mit Rojava.