Abdurrahman Kızıl ist zusammen mit Evîn Goyî (Emine Kara) und Mîr Perwer (M. Şirin Aydın) bei dem Anschlag auf das kurdische Kulturzentrum Ahmet Kaya in Paris am 23. Dezember erschossen worden. Der langjährige kurdische Aktivist ist 1963 im Dorf Karaguneseydoye in Qers-Qaxizman geboren und musste die Türkei 2001 aufgrund von politischer Verfolgung verlassen. In der Tageszeitung Yeni Özgür Politika ist eine Reportage erschienen, in der seine Neffen vom Leben ihres Onkels erzählen. Einer der Neffen ist der Journalist Deniz Babir, der als YÖP-Korrespondent aus Europa berichtet.
Abdurrahman Kızıl und Deniz Babir
Deniz Babir sagt in der Reportage: „Meine Mutter ist mit drei Geschwistern aufgewachsen, zwei Brüdern und einer Schwester. Mein Onkel Abdurrahman war das Lieblingskind meiner Großmutter. Sie starb im vergangenen Jahr im Alter von 92 Jahren in den Armen meiner Mutter. Sie wusste, dass sie sterben wird. ‚Ich werde bald gehen. Werdet Ihr Abdurrahman zu mir bringen können?‘, hatte sie gesagt. Sie lebte in ihrem Dorf, von 1989 bis 1993 war sie Milizionärin. Sie prägte das Bewusstsein meines Onkels für die kurdische Sache. Wie eine Geschichte erzählte sie uns immerzu unsere Vergangenheit: ‚Wir sind Xorasan-Kurden, wir wurden mit Gewalt hierher deportiert.‘ Diese Wesensart meiner Großmutter wirkte in viele Menschen in unserem Umfeld tief hinein. Auch meinen Onkel prägten ihre Geschichten. Er nahm sie auf und widmete sich der kurdischen Sache.“
Vom türkischen Staat gefoltert
Anfang der 1980er Jahre heiratete Abdurrahman Kızıl und bekam einen Sohn. Aufgrund seiner politischen Überzeugungen wurden sowohl seine Ehe als auch sein sozialer Alltag im Dorf von Konflikten bestimmt, fährt Deniz Babir fort. „Er deutete ihr mal an, seine Meinung nicht ändern zu wollen, aber signalisierte, dass es in Ordnung wäre, wenn sie sich deshalb von ihm trennen würde. Irgendwann ließen sie sich dann scheiden. Zu der Zeit war der Patriotismus in unserer Region noch nicht besonders ausgeprägt. Mein Onkel zog später nach Istanbul, wo er für die ERNK [„Nationale Befreiungsfront Kurdistans“ - wurde 1985 als Frontorganisation zur Organisierung der Gesellschaft gegründet] aktiv wurde. Nach 1989 gelang es ihm nie wieder, sein Dorf zu betreten. Zwei Mal unternahm er einen Versuch, doch beide Male wurde er noch vor Erreichen des Busbahnhofs von Qers aufgrund einer Denunziation festgenommen und in Haft gefoltert. Die Polizei drohte ihm beim letzten Mal, er solle schleunigst nach Istanbul verschwinden und nie wieder kommen, sonst würden sie ihn töten. Meine Großmutter hatte meinen Onkel am Busbahnhof gesehen. ‚Apos Körper war blutüberströmt und von Flecken bedeckt‘, erzählte sie und schlug sich dabei auf die Knie. In dieser Verfassung fuhr er weg.“
„Apo läuft bei jeder Demonstration mit“
Abkehren vom kurdischen Befreiungskampf kam für Abdurrahman Kızıl nicht in Frage, die Unterdrückung und Folter konnten ihm nichts anhaben. Er engagierte sich bei der DEP, HEP und HADEP – in den 1990er Jahren gegründete, linksgerichtete politische Parteien, die ihren Schwerpunkt auf die Lösung der kurdischen Frage legten und allesamt verboten wurden. „Zu dieser Zeit zog der Name von meinem Onkel wie eine Legende durch unsere Dörfer. Wenn es Besuch von jungen Leuten aus Istanbul gab, ging es bei den Gesprächen nur um ihn. ‚Apo läuft bei jeder Demonstration mit, wo seid Ihr?‘, hieß es immer. Viele bewunderten ihn. Ende 1992 ist dann unsere gesamte Familie nach Istanbul migriert. Wir wohnten im Stadtteil Esenyalı. Als mein Onkel uns das erste Mal besuchte, hatte er eine Ausgabe der Ülkede Gündem dabei. Die Zeitung war verboten und man konnte sie nur bei einer Handvoll Geschäften kaufen. Er hatte sie immer dabei, wenn er zu uns kam. Er las jede Zeile und erzählte uns von dem Vorsitzenden [Abdullah Öcalan] und der PKK. Eine größere Gruppe von Guerillakämpfern war damals gefallen. Als mein Onkel uns den Bericht vorlas, sagte ich zu meinem Cousin: ‚Schau mal Mustafa, schon wieder gibt es Gefallene.‘ Mein Onkel, so schien es mir, fasste das wohl als Spott meinerseits auf. Er nahm meine Hand und sagte: ‚Lieber Sohn, das sind Helden, die für uns ihr Leben gegeben haben.‘ Unsere Gespräche drehten sich immer nur um die Revolution und den Widerstand.“
Zum Nachrichtenschauen im NÇM
1995 zog die Familie von Deniz Babir nach Sarıgazi. Abdurrahman Kızıls Besuche wurden seltener. „Mein Vater wollte von meinem Onkel wissen, warum er kaum noch bei uns vorbeischaute. ‚Bei euch gibt es kein Med TV [Der erste kurdische Fernsehsender Med TV ging 1995 auf Sendung und musste nach vier Jahren wieder geschlossen werden]. Deshalb gehe ich jeden Abend ins Kulturzentrum NÇM, um Nachrichten zu schauen’, antwortete er. Tag für Tag fuhr er zur Istiklal, um sich die Nachrichtensendung anzusehen. Danach setzte er sich in den Bus Richtung Topkapı-Şifa nach Hause. Das war eine lange Strecke, die er für Neuigkeiten von der Bewegung jeden Tag auf sich nahm. ‚Wenn es den Sender bei euch geben würde, käme ich natürlich öfter vorbei‘, sagte mein Onkel. Mein Vater blieb zunächst noch stur, lange hielt dieser Zustand aber nicht an. Nach zwei oder drei Monaten rief er meinen Onkel an und sagte ihm, dass es bei uns nun Med TV gab. Danach ging mein Onkel bei uns ein und aus“, erinnert sich Deniz Babir.
Spuren der Folter
Das NÇM, Kulturzentrum Mesopotamien, stellt bis heute einen wichtigen Eckpfeiler zur Verteidigung der kurdischen Kultur dar. Es wurde 1991 gegründet – zu einer Zeit, in der der Vernichtungskrieg in Nordkurdistan gerade in vollem Gange war. Daher galt es von Beginn an auch als Ankerpunkt für die vertriebene kurdische Bevölkerung. Im Umfeld des Kulturzentrums wimmelte es nur von Polizisten, zudem wurde es nachrichtendienstlich überwacht. Festnahmen gehörten damals zum normalen Tagesablauf, auch Abdurrahman Kızıl bekam dies zu spüren. Vor allem wenn er sich zu später Stunde auf den Heimweg begab, geriet er ins Visier der Polizei. Deniz Babir erinnert sich, dass sein Onkel an einem Abend blutüberströmt vor der Türe gestanden habe. „Er war unfähig vor Schmerz, sich zu bewegen. Sein ganzer Rücken war übersät von den Spuren der Folter. Man hatte ihn mit Schlagstöcken niedergeprügelt. Daher bat er mich, seine Zeitung zu besorgen. Ich dürfte aber nicht vergessen, die Zeitung unter meinen Arm zu klemmen, schärfte er mir noch ein.“
Minderjähriger Sohn Opfer von „Schlauch-Süleyman”
1996 holte Abdurrahman Kızıl seinen Sohn zu sich nach Istanbul. Der Junge war 13 Jahre alt und arbeitete als Schuhputzer, um sich ein kleines Taschengeld zu verdienen. Oftmals war er an der Einkaufsmeile Istiklal im zentralen Stadtteil Beyoğlu anzutreffen. Die örtliche Polizei war damals berüchtigt für ihren „Krieg“ gegen die Transsexuellen-Szene in der Gegend um Cihangir, die sie „Lubunistan“ nannten, nach der Selbstbezeichnung Lubunya. Ein Beamter brachte es damals zu besonders zweifelhaftem Ruhm: Kommissar Süleyman Ulusoy. Er leitete die Einsätze, bei denen in Häuser von Transsexuellen eingebrochen, die Bewohnenden verprügelt und aufs Revier verschleppt wurden. Berühmt wurde Ulusoy durch Wasserschläuche – sein bevorzugtes Prügelinstrument. Landesweit wurde er „Schlauch-Süleyman“ genannt.
Deniz Babir erzählt über seine Erinnerungen an einen Vorfall: „Hakan ging nach der Arbeit ins NÇM und schaute die Nachrichten auf Med TV. Zu Hause berichtete er dann seinem Vater von den Meldungen. An einem Abend geriet er auf der Şişhane-Brücke in eine Polizeikontrolle. Weil der Nachname Kızıl bekannt war, wurde der Junge festgenommen und auf das Revier in Beyoğlu gebracht. Schlauch-Süleyman kannte meinen Onkel und wusste, dass es dessen Sohn war, der da gerade auf die Wache gebracht worden war. Er schleppte Hakan zur Toilette, zog ihn splitternackt aus und prügelte mit einem nassen Schlauch auf ihn ein.
Mein Onkel machte sich große Sorgen, weil sein Sohn nicht nach Hause gekommen war und er ihn nicht finden konnte. Er wandte sich an Eren Keskin [Menschenrechtsanwältin und IHD-Vorsitzende, die zahlreiche Transsexuelle bei Prozessen gegen Ulusoy vertreten hat]. Ihr gelang es, den Aufenthaltsort von Hakan zu ermitteln und seine Freilassung zu erwirken. Man hatte ihn übel zugerichtet. Die Auspeitschungen hatten überall auf seinem Körper violettfarbene, fast schwarze Striemen hinterlassen. Er war entsetzt und verängstigt. ‚Es ist schwer, dein Sohn zu sein‘, sagte Hakan zu seinem Vater.“
Die patriotische Persönlichkeit seines Onkels sei sehr ausgeprägt gewesen, sagt Deniz Babir. „Er arbeitete auf dem Bau und gab seinen Lohn an die jungen Leute von der Bewegung weiter. Keiner dieser Menschen verließ die Wohnung von Abdurrahman Kızıl, ohne Taschengeld von ihm bekommen zu haben. Geld spielte keine Rolle. Es für sich selbst zusammenhalten kam nicht in Frage, obwohl er die Mittel dazu gehabt hätte. Das Einzige, woran er dachte, waren die Partei und die Werte. Einmal hielt ihm meine Großmutter sogar vor, dass er die Bewegung mehr schätzte als seine eigene Familie. Es war die Phase, als sich Abdullah Öcalan in Rom aufhielt. Mit der Zeit wurde es immer schwieriger, Nachrichten vom Vorsitzenden zu erhalten. Mit Beginn der 2000er Jahre zog sich der Kreis um meinen Onkel immer enger zusammen. Ständig wurde er festgenommen und gefoltert. 2001 verließ er das Land und suchte politisches Asyl.“
Das letzte Treffen
Auch Deniz Babir musste die Türkei verlassen. Seit 2018 lebt er als Geflüchteter in Deutschland. „Als mein Onkel und ich uns nach so langer Zeit zum ersten Mal wiedergesehen hatten, war er glücklich darüber, dass ich dem Kampf treu geblieben bin. ‚Weiche niemals von deinem Weg ab‘, mahnte er. Wir trafen uns meistens auf den alljährlichen Kulturfestivals der kurdischen Community in Europa. Auf der letzten Veranstaltung war ich mit einer Sendung beschäftigt. Ich hatte kaum eine freie Minute und mein Onkel musste mir regelrecht hinterherlaufen. Ich unterbrach daraufhin meine Arbeit, damit wir wenigstens einige Augenblicke miteinander verbringen konnten. Das machte ihn wütend. Er wollte nicht, dass ich eine Pause machte, schließlich war ich im Einsatz für die Sache. Das letzte Mal sah ich ihn vor ein paar Wochen in Paris. Mein Onkel war schwer an Krebs erkrankt und seit drei Jahren in Behandlung. Ich hatte mir vorgenommen, einige Tage bei ihm zu übernachten. Er war schwer gezeichnet durch den Krebs. Nach der ersten Therapie schien es bergauf zu gehen, doch dann wurde auch seine Leber befallen. Bei meiner Abreise fuhr er zur Behandlung ins Krankenhaus. Seine letzten Worte klangen wie ein letzter Wille: ‚Wenn mir etwas zustößt, begrabt mich neben meiner Mutter.‘“
„Wir sind wütend“
Mindestens acht Kugeln feuerte der Franzose William M. ab, als er vor einer Woche ein Massaker in der Rue d’Enghien verübte. Kein einziger Schuss ging daneben, jede abgegebene Patrone traf ein Opfer. „Daher sollte man diesen Angriff nicht unterschätzen“, betont Deniz Babir. Der Journalist kritisiert, dass die französischen Behörden den Anschlag relativieren würden. „Das kurdische Volk wird dieses Massaker nicht hinnehmen. Wir sind wütend. Wütend darüber, dass Kurdinnen und Kurden mitten in Europa auf diese Weise aus dem Leben gerissen werden. Als Hinterbliebene sind wir bereit, den juristischen Kampf um Gerechtigkeit bis zum Ende auszutragen.“