Während das Terrorregime der Taliban immer drastischere Ausmaße annimmt, ist die Bundesregierung offensichtlich am Schicksal von Familienangehörigen von anerkannten Flüchtlingen und völkerrechtlich Gleichgestellten nicht interessiert. Aus einer Kleinen Anfrage der fluchtpolitischen Sprecherin der Linksfraktion, Clara-Anne Bünger, geht hervor, dass mehr als 8.000 Familienangehörige derzeit auf einen Botschaftstermin warten, um ein Visum zur Familienzusammenführung beantragen zu können.
Die Zahl der Terminanträge auf Familiennachzug ist damit deutlich gestiegen: So haben in Kabul 5.773 Personen Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen und 2.493 Personen zu subsidiär Schutzberechtigten beantragt, während es Mitte 2021 noch 4.838 Anträge auf Nachzug zu anerkannten Flüchtlingen und 712 zu subsidiär Schutzberechtigten waren. In diesen Zahlen bildet sich auch die Verschärfung der Lage in Afghanistan ab.
Die Wartezeiten belaufen sich auf Monate, oft sogar Jahre. Durchschnittlich lagen die Wartezeiten auf einen Termin seit 2020 bei über einem Jahr. Insbesondere Frauen werden vom Regime der Taliban systematisch terrorisiert, aber auch Hunger und Dürre sind zur akuten Lebensbedrohung geworden.
„Eklatanter Verstoß gegen den menschenrechtlich gebotenen Schutz des Familienlebens“
Bünger kommentiert die Situation: „Die damit verbundenen überlangen Trennungszeiten verletzen eklatant den menschenrechtlich gebotenen Schutz des Familienlebens. Zwar hat die Bundesregierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Verfahren zu beschleunigen – beispielsweise wurden die Visastellen angewiesen, Ermessensspielräume zu nutzen und das aufwändige Urkundenüberprüfungsverfahren wurde ausgesetzt – doch das kommt viel zu spät und reicht bei Weitem nicht aus.“
„Priorität der Bundesregierung liegt auf ökonomisch verwertbarer Migration“
Bünger kritisiert außerdem die Verwertbarkeitslogik bei der Visaerteilungspolitik: „Es ist bezeichnend, dass Bemühungen zur Verkürzung der Wartezeiten im Visumverfahren in erster Linie im Bereich der Fachkräfteeinwanderung unternommen werden. Hier wird das online-gestützte Visumverfahren erprobt und Visavorsprachtermine sollen innerhalb von drei Wochen erfolgen, wohingegen die Angehörigen von in Deutschland lebenden Geflüchteten häufig länger als ein Jahr auf einen Termin warten müssen. Die Priorität auch der neuen Bundesregierung ist die Erleichterung ökonomisch verwertbarer Migration, nicht aber der dringend gebotene Schutz von Geflüchteten und ihren Familien.“
Zahlen für Familiennachzug nicht auf Vorcorona-Niveau
Die Kleine Anfrage beschäftigt sich auch mit der allgemeinen Situation des Familiennachzugs zu Schutzberechtigten. Im Jahr 2021 wurden insgesamt 15.849 Visa für den Nachzug zu Schutzberechtigten erteilt, davon fallen 9.891 auf anerkannte Flüchtlinge und 5.958 zu den völkerrechtlich gleichgestellten, aber in Deutschland rechtlich diskriminierten subsidiär Schutzberechtigten. Aufs Jahr gerechnet stieg die Zahl im Jahr 2022, so wurden im ersten Halbjahr 2022 wurden 8.183 Visa für den Nachzug zu Schutzberechtigten erteilt, 4.527 zu anerkannten Flüchtlingen, 3.656 zu subsidiär Schutzberechtigten.
Die Zahl der erteilten Visa für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ist somit – auf das Jahr hochgerechnet – angestiegen. Nichtsdestotrotz liegt die Zahl der erteilten Visa zu subsidiär Schutzberechtigten weiterhin deutlich unter dem möglichen Monatskontingent von 1000 pro Monat.
Nachzugszahlen weiterhin niedrig
Auch ist die Zahl der für den Familiennachzug zu Schutzberechtigten erteilten Visa vom Niveau vor Corona nach wie vor weit entfernt: 2019 waren noch 24.835 Visa für den Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten erteilt worden.
„Überlange Trennungszeiten verletzen klar das Menschenrecht auf Familienleben“
Zum Stand 15. Juni gab es bei den deutschen Auslandsvertretungen 61.381 registrierte Terminanfragen für Visa zum Familiennachzug. Insbesondere in Kabul, aber auch in anderen Vertretungen ist die Anzahl der Terminregistrierungen deutlich gestiegen, während ein allgemeiner Rückgang zu verzeichnen ist. Besonders dramatisch sind die Wartezeiten in Islamabad, Kabul, Teheran und Lagos. In Islamabad und Teheran werden die Visaanträge aus Afghanistan bearbeitet. Noch schlimmer ist die Lage in Nairobi, Khartum und Addis Abeba. Dort liegen die Wartezeiten bei bis zu zwei Jahren.
Das ist einer der Faktoren, die Schutzsuchende auf die lebensgefährliche Mittelmeerroute treiben. Dazu erklärt Clara-Anne Bünger: „Viele Geflüchtete mit Schutzstatus in Deutschland müssen jahrelang auf den Nachzug ihrer Partner:innen, Eltern oder minderjährigen Kinder warten. Sie haben zwar auf dem Papier das Recht, ihre engsten Angehörigen zu sich zu holen, stoßen aber in der Praxis auf erhebliche Hürden. Die überlangen Trennungszeiten sorgen für viel Leid bei den Betroffenen und verletzen klar das Menschenrecht auf Familienleben. Die Bundesregierung müsste viel größere Anstrengungen unternehmen, um diese Situation endlich erkennbar zu verbessern.“
Korrekturanmerkung: Weitere Recherchen haben ergeben dass die Zahl der Wartenden 8.000 und nicht wie zuvor berichtet 5.000 beträgt.