Şengal-Abkommen: Ezidische Verbände kritisieren Menschenrechtsbeauftragte

Ezidische Verbände sind entsetzt über Forderungen der grünen Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, die Umsetzung des „Sinjar-Abkommens“ zu forcieren. Die Vereinbarung zwischen Bagdad und Hewlêr wurde ohne Einbeziehung der Ezid:innen getroffen.

Abkommen nicht zugunsten der Ezid:innen

Ezidische Verbände in Deutschland haben sich entsetzt gezeigt über Forderungen der Grünen, das zwischen den Regierungen in Bagdad und Hewlêr (Erbil) zur Kontrolle über Şengal geschlossene „Sinjar-Abkommen“ umzusetzen. Die im Oktober 2020 unter Aufsicht der Vereinten Nationen getroffene Vereinbarung sei ohne Einbeziehung der Ezidinnen und Eziden verhandelt und von Akteuren unterzeichnet worden, die Şengal vor den anstürmenden Horden der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) im August 2014 schutzlos zurückließen und dadurch den Genozid an der ezidischen Bevölkerung erst ermöglichten, erklärten der Zentralverband der Ezidischen Vereine (NAV-YEK) und der Dachverband der Ezidischen Frauenräte (SMJÊ) vor wenigen Tagen in einer gemeinsamen Mitteilung. Sie lehnen das Abkommen entschieden ab. Ein Übereinkommen zur Zukunft Şengals könne nur mit der Beteiligung und den Forderungen der ezidischen Bevölkerung erfolgreich umgesetzt werden.

Letzten Dienstag hatten die Grünen zu einem Fachgespräch im Bundestag unter dem Titel „10 Jahre nach dem Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden“ geladen. Unter den Schlagwörtern Begegnung, Austausch und Perspektiven gab es Thementische entlang verschiedener Schwerpunktthemen, unter anderem auch zum sogenannten Sinjar-Abkommen und wie dieses umgesetzt und der Wiederaufbau in Şengal angegangen werden könne. Die grüne Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, sprach davon, dass die Umsetzung der von ezidischen Verbänden scharf kritisierten Übereinkunft „oberste Priorität“ für ihre Partei habe; „auf allen diplomatischen Kanälen“.

„Das in Kooperation mit der Türkei und den USA zwischen Bagdad und Erbil geschlossene Abkommen ist am Willen und an den Interessen der ezidischen Bevölkerung vorbei zustande gekommen“, betonten demgegenüber NAV-YEK und SMJÊ. Es sei ein „eindeutiger Beleg für die kontraproduktive Strategie“ dieser Kräfte zur ezidischen Frage. Diese grundlegende Kritik am besagten Abkommen sei auch im deutschen Bundestag bei der Verabschiedung der Resolution zur Anerkennung des Völkermords an den Ezid:innen fraktionsübergreifend festgehalten worden. „Umso skandalöser ist es, dass bei einer Veranstaltung im Bundestag für die Umsetzung dieses Abkommens plädiert wird“, kritisierten die Verbände.

NAV-YEK und SMJÊ wiesen mit Nachdruck darauf hin, dass infolge des Genozids, der am 3. August 2014 durch den sogenannten IS an der ezidischen Bevölkerung Şengals verübt wurde, über 400.000 Menschen ihre Heimat verlassen mussten. „Mehr als 10.000 Menschen wurden auf brutalste Weise ermordet und über 7.000 Frauen und Kinder verschleppt. Frauen wurden systematisch vergewaltigt und auf Sklavenmärkten verkauft.“ Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Femizid dar. Die Verbände nannten mehrere Forderungen, deren Umsetzung dazu beitragen könnte, die ezidische Frage mit demokratischen Methoden zu lösen. Dazu gehöre neben dem Wiederaufbau Şengals und einer entsprechenden Geberkonferenz auch die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Region.

„Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Interessen und Rechte der Eziden in zukünftigen Verhandlungen und Vereinbarungen respektiert und berücksichtigt werden. Ausdrücklich möchten wir nochmals betonen, dass wir die Forderungen der Demokratischen Selbstverwaltung von Şengal unterstützen“, so die Verbände NAV-YEK und SMJÊ. In diesem Zusammenhang formulieren sie sechs grundlegende Forderungen von Şengal für Şengal:

1. Selbstverwaltung im Einklang mit der Verfassung

Der Irak hat eine Verfassung, die die Rechte und Freiheiten der im Lande lebenden Bevölkerungsgruppen garantiert. Gemäß den Artikeln 116, 117, 122 und 125 der geltenden Verfassung hat jede ethnische und religiöse Gruppe im Irak das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie. Die Ezid:innen haben nach dem Genozid vom 3. August 2014 eine eigene Selbstverwaltung aufgebaut, die anerkannt werden muss.

2. Der Völkermord muss offiziell anerkannt werden

Die ezidische Gemeinschaft ist ein wichtiger Bestandteil der irakischen Gesellschaft und ihre Verteidigung obliegt der irakischen Regierung. Der irakischen Regierung wurde kürzlich ein Resolutionsentwurf zum Völkermord vorgelegt. Über diesen Entwurf muss jetzt im Parlament abgestimmt werden. Nur wenn die irakische Regierung dieses Massaker an der irakischen Bevölkerung im Allgemeinen und an der Bevölkerung von Şengal im Besonderen offiziell anerkennt, können Stabilität, Frieden und Sicherheit in Şengal gewährleistet und eine ausländische Intervention verhindert werden.

3. Juristische Verfolgung der Täter

Das irakische Bundesgericht wird aufgefordert, diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die die politische, administrative und militärische Verantwortung für den Völkermord tragen. Das gilt insbesondere für die Entscheidungsträger der PDK („Demokratische Partei Kurdistans“), die mit dem Abzug der Peschmerga aus Şengal dem IS den Weg freigemacht haben. Die von der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) angekündigten Prozesse gegen internierte IS-Mitglieder müssen von der irakischen Regierung und dem Bundesgericht unterstützt werden. Überlebenden Ezid:innen muss ermöglicht werden, als Zeug:innen an diesen Verfahren teilzunehmen.

4. Alle Massengräber müssen geöffnet werden

In Şengal wurden 83 Massengräber mit Opfern des Völkermords gefunden, aber nur 46 von ihnen wurden geöffnet. Alle Massengräber müssen geöffnet und die Leichen identifiziert und ihren Angehörigen übergeben werden.

5. Das Abkommen vom 9. Oktober 2020 muss annulliert werden

Obwohl die autonome Verwaltung von Şengal und ihre politischen Parteien in den letzten neun Jahren Gespräche mit der irakischen Regierung geführt und verschiedene Projekte zur Lösung der politischen, administrativen und sicherheitspolitischen Probleme vorgelegt haben, hat die irakische Regierung keine ernsthaften Schritte unternommen. Stattdessen hat sie, ohne den Willen der ezidischen Gemeinschaft zu berücksichtigen und unter dem Druck des türkischen Staates, der PDK und internationaler Mächte, mit dem Abkommen vom 9. Oktober 2020 den Weg für eine ausländische Intervention in Şengal und im Irak geebnet. Dieses Abkommen dient nicht den Interessen der ezidischen Gemeinschaft und der Bevölkerung des Irak. Es muss aufgehoben und durch ein Abkommen mit den Vertreter:innen der Selbstverwaltung von Şengal ersetzt werden.

6. Wiederaufbau und Rückkehr

Nach dem Völkermord von 2014 verblieben nur noch etwa 10.000 Ezid:innen in Şengal. Derzeit leben etwa 200.000 Ezid:innen in den Ebenen und Bergen der Region. Eine der größten Errungenschaften der Autonomieverwaltung ist die Rückkehr der Menschen in ihre Heimat. Die irakische Regierung wird aufgefordert, mit der Autonomieverwaltung Şengals zusammenzuarbeiten und die notwendigen Einrichtungen bereitzustellen, um die Rückkehr der verbleibenden Vertriebenen zu beschleunigen. Auch die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die Selbstverwaltung von Şengal zu unterstützen und die verfassungsmäßigen Rechte der ezidischen Gemeinschaft zu garantieren.