Völkerrechtsexperte Jan Fermon
Der türkische Staat und seine Stellvertreter setzen ihre Besatzungsangriffe auf Nord- und Ostsyrien fort, die sich insbesondere gegen Zivilist:innen und Wohngebiete richten. Städte wie Efrîn (Afrin), Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) haben seit der Besetzung einen systematischen demografischen Wandel, Zwangsvertreibungen, Plünderungen und schwere Menschenrechtsverletzungen erlebt.
Situation seit der Invasion
Seit Beginn der Invasion wurden Hunderte von Zivilist:innen getötet, Tausende wurden vertrieben und zu Flüchtlingen. Die kurdische, arabische und andere in der Region lebende Gemeinschaften sind starker Unterdrückung ausgesetzt, während sich die von den Besatzungstruppen verhängten rechtswidrigen Praktiken mit jedem Tag verschärfen. Entführungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen von Frauen nehmen zu, und historische und kulturelle Stätten werden geplündert. Während die internationale Gemeinschaft angesichts dieser Verbrechen schweigt, setzen die Menschen in der Region ihren Widerstand fort.
Aktuelle Situation
Der türkische Staat und die „Syrische Nationalarmee“ (SNA) haben zahlreiche Gebiete der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) angegriffen, um die Region nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes vollständig zu kontrollieren. Bei diesen Angriffen sind Dutzende von Zivilist:innen, darunter auch kurdische Medienschaffende, ums Leben gekommen, während die Infrastruktur und wichtige Dienstleistungseinrichtungen stark beschädigt wurden. Mit diesen Besetzungsangriffen versucht der türkische Staat, die Region zu destabilisieren, die Menschen zu vertreiben und seine Besatzung auszuweiten. Die Menschen in der Region wehren sich jedoch weiterhin gegen diese Angriffe, wie ihre unerschütterliche Verteidigung des Tişrîn-Staudamms zeigt.
ANF sprach mit dem Rechtsanwalt Jan Fermon, einem Experten für Strafrecht, humanitäres Recht und Völkerrecht von der Brüsseler Anwaltskammer, über die völkerrechtlichen Folgen der Verbrechen des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien und den besetzten Gebieten.
Verbrechen der Aggression
Rechtsanwalt Fermon erklärte, der türkische Staat habe in Nord- und Ostsyrien drei Arten von internationalen Verbrechen begangen. Er beschrieb diese Verbrechen wie folgt: „Das erste ist das Verbrechen der Aggression. Die Angriffe des türkischen Staates stellen eine militärische Operation gegen ein souveränes Land dar. Unter diesen Umständen hat kein Staat das Recht, Gewalt gegen einen anderen anzuwenden. Das Verbrechen der Aggression ermöglicht alle anderen Verbrechen und dient als deren Grundlage.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Das zweite Verbrechen sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Verbrechen werden in großem Umfang und auf systematische Weise begangen. Insbesondere finden Zwangsumsiedlungen statt, um die kurdische Bevölkerung durch eine arabische zu ersetzen.
Systematische Kriegsverbrechen
Und schließlich werden auch Kriegsverbrechen begangen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einzelne Vorfälle, sondern um systematische Kriegsverbrechen. Es gibt Kampagnen von Kriegsverbrechen, die speziell darauf ausgerichtet sind, die Bevölkerung zu vertreiben. Verbrechen wie die Vergewaltigung in Gefängnissen und die Bombardierung von Zivilbevölkerung und ziviler Infrastruktur haben alle das gemeinsame Ziel, die Bevölkerung zu vertreiben. Daher sind diese Verbrechen miteinander verknüpft.“
Türkische Regierung und Beamt:innen direkt verantwortlich
Rechtsanwalt Fermon erklärte, dass die türkische Regierung und ihre Beamten direkt für die in der Region begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich seien. Er erklärte: „Bei diesen Verbrechen handelt es sich nicht um individuelle Handlungen, die von einem einzelnen Soldaten begangen wurden. Vielmehr sind sie Teil einer organisierten und systematischen Reihe von Straftaten, und solche Verbrechenskampagnen können nur entsprechend der Befehlskette ablaufen. Diese Angriffe sind keine einfachen Drohnenangriffe, die nach dem Ermessen einzelner Soldaten durchgeführt werden. Ein Soldat kann nicht allein entscheiden, eine Drohne zu starten, um ein ziviles Ziel anzugreifen. Sie werden von hochrangigen Militärs minutiös geplant. Daher tragen die Generäle, die diese Angriffe leiten, und die obersten politischen Instanzen, die dem Militär die Befugnis erteilen, auf diese Weise zu handeln, die Verantwortung.“
Bedeutung des Urteils vom Ständigen Volkstribunal
Das Permanent Peoples’ Tribunal (PPT) führte am 5. und 6. Februar Anhörungen in Brüssel durch, um den Vorwürfen gegen die Türkei wegen Völkerrechtsverstößen nachzugehen. Rechtsanwalt Fermon trat hierbei als Ankläger auf und unterstrich die Bedeutung der endgültigen Urteile dieses Gerichts. Er sagte: „Das Tribunal wird ein Urteil fällen, und ich hoffe, dass es anerkennen wird, dass die von uns vorgelegten Beweise tatsächlich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen der Aggression darstellen. Dieses Urteil muss zu einem Druckmittel für unsere Regierungen werden, damit sie Maßnahmen gegen die Türkei ergreifen. Der wichtigste Aspekt ist, dass die Entscheidungen dieses Tribunals den von uns geführten Kampf legitimieren werden. Bei den Richter:innen, die diese Urteile fällen, handelt es sich um Jurist:innen, die ihr Leben der Justiz gewidmet haben, was diesen Entscheidungen unbestreitbares Gewicht verleiht. Es handelt sich nicht mehr nur um eine Meinung, sondern um eine juristische Bewertung, die diese Verbrechen bestätigt. Diese Urteile werden Druck auf die Regierungen ausüben und sie zum Handeln zwingen.“
Der Kampf wird entscheidend sein
Weiter betonte Jan Fermon, dass die wahre Kraft, die den Schutz des Völkerrechts gewährleistet, im Kampf der Menschen läge. Er schloss seine Ausführungen mit den Worten: „Die Vereinten Nationen haben eine Verantwortung, aber wie ich immer sage, die UN haben keine eigene Polizei. Letzten Endes wird das Völkerrecht durch den Kampf der Menschen aufrechterhalten. Es sind die Menschen, die Druck auf die Regierungen ausüben, damit sie Maßnahmen ergreifen, Sanktionen verhängen, Waffenverkäufe stoppen und diplomatische Beziehungen abbrechen. Der Mechanismus, der die Einhaltung des Völkerrechts gewährleistet, stützt sich nicht auf die UN oder eine nicht existierende internationale Polizeitruppe, sondern auf den Willen und die Aktionen der Menschen.“