Wer auch immer die Wahl gewinnt – die USA verfolgen eine Staatsraison

Der Akademiker Zafer Yörük analysiert im ANF-Interview die Auswirkungen eines möglichen Wahlsiegs von Donald Trump auf die US-Politik zur Türkei und der Ukraine.

„Deeskalation oder Dritter Weltkrieg“

Die bevorstehenden US-Wahlen dominieren den medialen Diskurs. Nach dem Attentat auf Donald Trump schien es, als wäre der Sieg der Republikaner sicher. Durch den Rückzug von Joe Biden und die mit größter Wahrscheinlichkeit bevorstehende Kandidatur von Kamala Harris haben sich die Chancen der Demokraten verbessert.

Nach dem jüngsten NATO-Gipfel sind die Fragen nach der Ausrichtung der US-Politik zur Türkei und Ukraine weiterhin unklar. Es gibt jedoch gewisse Linien, die sich bei einem potenziellen Wahlsieg der Demokraten bzw. Republikaner abzeichnen. Im ANF-Interview äußert sich der Akademiker Zafer Yörük zu möglichen Entwicklungen, insbesondere in Bezug auf den Ukraine-Krieg und die Machtbalancen im Nahen Osten.

Das Attentat auf Trump brachte den Republikanern einen starken Aufschwung. Der Rückzug von Biden und die wahrscheinliche Kandidatur von Kamala Harris scheinen die Balancen erneut verändert zu haben. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen?

Noch ist es nicht sicher, aber wir werden in naher Zukunft sehen, was die Kandidatur von Kamala Harris bewirkt. Wir wissen noch nicht, welche Strategie Trump dagegen einsetzen wird. Seine Erklärung, dass sie eine leichtere Gegnerin für ihn sein werde, trifft nicht zu. Es wird erwartet, dass Kamala Harris eine sehr schwierige Konkurrentin für Trump sein wird. Man kann also nicht behaupten, dass die Demokraten nicht wieder gewinnen können. Sie können gewinnen. Die nächste Präsidentin könnte Kamala Harris sein, aber es könnte auch jemand anderes in Frage kommen.

Welche Auswirkungen würde ein Sieg der jeweiligen Parteien für die Welt haben, insbesondere wenn wir uns die Ergebnisse des NATO-Gipfels ansehen? Was würde dies für die Ukraine-Politik bedeuten?

Unabhängig davon, wer Präsident wird, sollten wir nicht vergessen, dass die USA eine Staatsraison verfolgen. Es handelt sich um eine Strategie und Politik, die über die Präsidenten hinausgeht. Natürlich können unterschiedliche Ansätze der Regierungen diese Strategie verlangsamen, beschleunigen, verändern usw. Zum Beispiel hat Trump seit Beginn des Ukraine-Krieges (2022) behauptet, er könne diesen Krieg beenden. Wir wissen nicht, um welche Art von Ende es sich dabei handeln wird. Trump handelt dabei aber vor allem nach ökonomischen Vorstellungen.

Trump will kein Geld für Kriege ausgeben, die keinen Gewinn bringen“

Was meinen Sie damit?

Trump hat die Perspektive, ökonomische Ressourcen nicht in die Weltpolitik, sondern in die US-Wirtschaft zu stecken. Er will kein Geld für Kriege ausgeben, die keinen Gewinn bringen. Denn Trump sieht die Situation eher wie ein Geschäftsmann. Er schaut darauf, was er von der Ukraine bekommen kann. Aber einen konkreten Gewinn, jenseits der Verhinderung der Expansion Russlands, scheint es hier nicht zu geben. Deshalb wird er wahrscheinlich die Krim und den Donbas, also die Regionen, die Russland im Moment annektiert hat, Russland überlassen und sagen, die Ukraine solle sich mit dem Rest zufriedengeben.

Die Situation ist Folgende: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban traf sich unmittelbar nach dem NATO-Gipfel sowohl mit Putin als auch mit Trump. Es ist davon auszugehen, dass sowohl die Verabschiedung des Hilfspakets für die Ukraine durch den US-Kongress im Einklang mit Selenskyjs Forderungen, die Unterstützung der Ukraine in der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels, in der verkündet wurde, dass man eine NATO-Mitgliedschaft in Erwägung ziehe, als auch die Entscheidung über Langstreckenraketen, Putin sehr unruhig gemacht haben. Orbans Reise scheint eine Art Appell zu sein, Putin zu beruhigen und ihn daran zu hindern, den Krieg auszuweiten. Das sind natürlich nur Vermutungen. Es scheint, als ob dort eine Atmosphäre geschaffen werden sollte, dass Trump kommen werde und man dann schon alles regele. Denn er traf sich mit Trump unmittelbar nach dem Treffen mit Putin. Schließlich ist Trump nicht der Präsident. Aber Orban hatte ein Treffen mit Trump in Florida. Es wird sogar gemunkelt, dass er den türkischen Präsidenten Erdoğan im Vorfeld über dieses Treffen informiert hat.

Russland hat kein Interesse an Vermittlerrolle der Türkei

In der Tat scheint Orban eine ähnliche Politik mit der Türkei zu verfolgen. Könnte Ungarn den Platz der Türkei bei Vermittlungen mit Russland einnehmen?

Erdoğan war sehr an einer Vermittlerrolle interessiert. Putins Sprecher Dmitri Peskow erklärte jedoch unmissverständlich, dass von einer Vermittlerrolle der Türkei keine Rede sein kann. Das bedeutet, dass die Beziehungen zwischen Erdoğan und der Putin-Regierung derzeit angespannt sind. Niemand hat sich gegen Orbans Vermittlung gestellt, aber wie ich schon sagte, traf er sich statt mit der US-Regierung mit Trump, der noch immer nur ein Kandidat ist. Das stärkt in gewisser Weise die Möglichkeit von Friedensverhandlungen im Hinblick auf das mögliche Wahlergebnis. Am unzufriedensten wird hier natürlich der ukrainische Präsident Selenskyj sein.

Warum?

Der Krieg dauert nun schon mehr als zwei Jahre an, und es hat viele Kämpfe und unzählige Opfer gegeben. Die ukrainische Führung ist über diese Gespräche daher nicht erfreut. Aber sie kann nichts machen, denn es ist offensichtlich, dass die Ukraine den Krieg mit der vollen Unterstützung des Westens führt. Selenskyj verbringt wahrscheinlich mehr Zeit damit, Lobbyarbeit bei europäischen Ländern und den USA zu leisten, als sich mit der Situation an der Front auseinanderzusetzen. Es geht um mehr Geld für mehr Waffen. Wenn also die Republikaner die US-Regierung übernehmen, dürften die Kämpfe dort ein Ende haben. Aber wie ich schon sagte, haben die USA ihre eigene Staatsraison. Es ist auch unklar, wie zufrieden die Europäische Union und die europäischen Staaten mit dieser Situation sein werden. Denn die USA haben unter den europäischen Staaten Panik vor dem russischen Expansionismus verbreitet, die Russen würden sich ausbreiten, nach der Ukraine wären die baltischen Staaten dran, dann Finnland, Schweden und Deutschland … Die USA schürten diese Panik, und die europäischen Staaten bezogen entsprechend Stellung. Andererseits setzt sich allmählich der Gedanke durch: „Ja, die Ukraine wurde von Russland besetzt, das ist eine ungerechte Besetzung, aber die Lösung des Problems sollte nicht darin bestehen, den Krieg fortzusetzen, indem man der Ukraine so viel Hilfe, Waffen usw. zur Verfügung stellt.“ Das gilt vor allem in der neuen Rechten, aber auch in bestimmten Teilen der Linken. Es ist sehr interessant, dass normalerweise, wenn die Linke kommt, der Frieden kommt, aber dieses Mal, wenn die Rechte (Republikaner) siegt, scheint es, als ob die Konfliktsituation in der Ukraine enden würde.

Demokraten stehen für Polarisierung wie im Kalten Krieg“

Was wird passieren, wenn die Demokraten gewinnen?

Wir kennen die Linie von Kamala Harris noch nicht wirklich. Wir wissen es nicht, weil sie sich zu diesen Themen bisher nicht geäußert hat. Aber der allgemeine Trend, das heißt, was Biden während seiner vierjährigen Amtszeit versucht hat, war die Wiederbelebung der Polarisierung des Kalten Kriegs. Genauer gesagt ist dieses Konzept und die Idee, die Welt dementsprechend zu gestalten, sicher nicht nur etwas, das Bidens Persönlichkeit entspringt. Auf der einen Seite gibt es Länder, die er als „demokratisch“ bezeichnet, hauptsächlich westliche Länder. Auf der anderen Seite sind die heutigen Länder, die als Osten oder globaler Süden bezeichnet werden. Dazu gehören insbesondere China und Russland, vor allem solche mit geschlossenen Regimen. Es sind führende Länder und Supermächte. Dann gibt es Länder mit geschlossenen Regimen wie den Iran, teilweise Nordkorea usw. In Bidens Rhetorik wurde aus diesen Ländern ein „antidemokratischer Block“ konstruiert. Er bemühte sich darum, diese binäre Weltsicht zu konstituieren. Im Ukraine-Krieg manifestierte sich dieser Konflikt. Deshalb könnten die Demokraten diesen Gedanken aufgeben und zu einem anderen Narrativ übergehen und entsprechend über einen neuen Weltentwurf nachdenken. Oder sie werden diese Perspektive beibehalten. Wenn sie diese Perspektive beibehalten, dann wäre es wahrscheinlich, dass der Konflikt in der Ukraine weitergehen wird. Aber wie ich schon sagte, gibt es hier zwei Faktoren.

Deeskalation oder Dritter Weltkrieg“

Welche?

Erstens: Kamala Harris hat sich noch nicht zu diesem Thema geäußert. Zweitens: Es ist nicht klar und sicher, dass Kamala Harris kandidieren wird. Außerdem: Wie lange werden die Ressourcen der Ukraine ausreichen, um diesen Krieg fortzusetzen? Auch das ist ein Fragezeichen. Denn dem Land gehen die menschlichen Ressourcen aus. Soweit ich weiß, haben sie begonnen, Jugendliche in die Armee einzuziehen. Sie haben sogar die Älteren in die Armee einberufen. Wenn dieser Krieg also weitergeht, bedeutet das, wie Macron sagte, dass auch die französische Armee und die Deutschen involviert sein werden und es zu einem europäisch-russischen Krieg kommen kann. Selbst wenn Russland nicht angreift und Europa daran festhält, die Ukraine nicht aufzugeben, wird Europa selbst in den Krieg ziehen müssen. Europa hat viele Jahre lang zu viel von seiner Sicherheitspolitik an die USA abgetreten. Daher werden Probleme bei einer Fortsetzung des Ukraine-Krieges auftreten. In jedem Fall, egal ob Trump oder die Demokraten an die Macht kommen, wird der Ukraine-Krieg wohl nicht mehr lange laufen. Natürlich wissen wir das nicht auf die russische Seite bezogen, denn die hat viele Ressourcen. Oder es wird tatsächlich einen Dritten Weltkrieg geben. Es scheint keine andere Lösung zu geben.

Türkei-Syrien-Abkommen wäre unter Trump wahrscheinlich

Die US-Politik hat auch einen Schwerpunkt im Nahen Osten. Einer dieser Schwerpunkte ist eng mit der Regionalpolitik der Türkei verknüpft. Die Türkei versucht wieder einmal, sich auf Verhandlungen mit Damaskus einzulassen. Gleichzeitig werden syrische Geflüchtete des Landes verwiesen. Wird die Türkei also, wenn Trump an die Macht kommt, grünes Licht für diese Politik bekommen? Schließlich befand sich Erdoğan in dieser Frage zuvor im Einvernehmen mit Trump.

Die meisten grenzüberschreitenden Operationen der Türkei in Syrien wurden während der Ära Trump durchgeführt. Zwar sendet Trump auch Botschaften wie „Don't be stupid, be smart“, aber trotzdem erklärte er in einem Telefonat: „Die USA werden sich aus allen Stützpunkten und Regionen in Syrien zurückziehen“. Natürlich hat das Pentagon diese Situation damals aufgeschoben, weil es eine Strategie gab. Ich glaube nicht, dass Trump jetzt sagen wird: „Wir ziehen uns direkt aus Syrien zurück, die Türkei sollte dort hingehen.“ Aber zum Beispiel wurde Erdoğans Bitte um ein Treffen mit Assad von der derzeitigen US-Regierung kritisiert und es wurde offiziell erklärt, dass dies falsch sei. Andererseits könnte nach Erdoğans Initiative ein Abkommen in Syrien möglich sein, dem sowohl Russland als auch die USA zustimmen würden. Denn obwohl sich die USA und Russland in der Ukraine gegenüberstehen, befinden sie sich in Syrien nicht in einer derart konträren Situation. Daher scheint eine für beide Seiten akzeptable Lösung in Syrien eher möglich.

Die Türkei hat ihre Invasion in Syrien aufgeschoben. Die Situation im Irak beispielsweise zeigt uns, dass es keine Notwendigkeit für eine größere Operation gibt, da die südkurdische Regierung auf der Grundlage der Kollaboration der PDK die militärische Expansion der Türkei ermöglicht. Die Situation in Syrien kann sich auch ändern, weil die Gleichgewichte anders sind.

Idlib ist wie eine Müllhalde für Dschihadisten“

Was würde eine Veränderung in Syrien verursachen?

Idlib hat in Syrien dieselbe Funktion wie Peshawar in Afghanistan. Peshawar liegt im Süden Afghanistans, ist aber eigentlich eine Region Pakistans. Jahrelang wurde die Region von den Taliban und anderen islamistischen Gruppen als Operationsbasis gegen die frühere Regierung Afghanistans genutzt. Und das ist es immer noch. Die Situation in Idlib ist ähnlich. Vor kurzem kamen die Kommandanten der Syrischen Nationalarmee in Idlib zusammen und trafen sich mit Devlet Bahçeli. Und dann trafen sie sich mit Alaattin Çakıcı. Wir wissen nicht, wem sie gedroht haben, aber der Ort kocht, oder besser gesagt, er blutet wie eine offene Wunde. Denn die dschihadistischen Gruppen, die sich im Krieg in Syrien nicht halten können, kommen eine nach der anderen dorthin. Es ist eine Art Müllhalde für Dschihadisten. Vielleicht können Russland und die USA, die Türkei und die syrische Regierung eine gemeinsame Lösung finden, was mit diesem Gebiet geschehen soll. Es scheint, dass Demokraten oder Republikaner in dieser Frage keinen Unterschied machen werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wenn Trump an die Macht kommt, Erdoğans Wunsch nach einem Treffen mit Assad möglicherweise erfüllt werden kann.