Sozialanthropologin Nükhet Sirman in der Türkei festgenommen

Die feministische Sozialanthropologin Nükhet Sirman ist in Istanbul festgenommen worden. Für eine Feldforschung soll sie mit einer Person gesprochen haben, die von der Polizei observiert wird. Das wurde ihr wohl zum Verhängnis.

Staatliche Repression

Die feministische Sozialanthropologin Nükhet Sirman ist in Istanbul festgenommen worden. Wie das von der 73-Jährigen mitbegründete Forschungskollektiv Dissensus am Sonntag öffentlich machte, wurde Sirman bereits am Samstag in ihrem Haus auf der Prinzeninsel Burgazada in Gewahrsam genommen. Grund der Festnahme sei gewesen, dass sie in der südtürkischen Küstenprovinz Mersin ein Feldinterview mit einer Person geführt hat, die von der Polizei observiert werde. Dort befinde sie sich derzeit auch in Gewahrsam der Gendarmerie (Militärpolizei), sagte Sirmans Rechtsanwältin Fatoş Hacıvelioğlu dem Nachrichtenportal Bianet. Nähere Informationen bekam die Juristin allerdings nicht. Die Akte unterliegt einer Geheimhaltungsverfügung und die Dauer des Gewahrsams für Sirman wurde auf vier Tage festgelegt. Frühestens für Dienstag sei eine Überstellung an die zuständige Staatsanwaltschaft vorgesehen.

Nükhet Sirman ist emeritierte Professorin für Anthropologie am soziologischen Institut der Istanbuler Boğaziçi-Universität. Zu ihren Forschungsthemen gehören unter anderem Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Familien, Geschlechterkonstruktion im Nationalismus, ethnische Konflikte, postkoloniale Gesellschaften, Oral History, ländliche Soziologie, patriarchale Gewalt an Frauen, feministische Theorie und die kurdische Frauenbewegung. Sirman ist Aktivistin, Unterstützerin und Mitbegründerin diverser Frauenorganisationen und Projekte, darunter der Feministischen Donnerstag-Gruppe, der Stiftung Frauenbibliothek und Frauen-Informationszentrum, der NGO KA-DER, die sich für eine angemessene und gleichberechtigte Vertretung von Frauen und Männern in allen gewählten und ernannten Entscheidungsmechanismen und politischen Gremien in der Türkei einsetzt, der Frauenkooperative Amargi und der Frauensektion der Initiative „Akademiker:innen für den Frieden“. Letztere wendet sich gegen das militärische Vorgehen der türkischen Regierung gegen die kurdische Gesellschaft und fordert eine friedliche Lösung der Kurdistan-Frage.

Bei der Feldstudie in Mersin, die zur Festnahme Sirmans geführt haben soll, handelt es sich offenbar um das Projekt mit dem Titel „Ein Leben jenseits der Gesetze“. Untersucht wurden dafür die Lebensverhältnisse von Kurdinnen und Kurden, die in den 1990er Jahren gewaltsam von der türkischen Armee aus ihren Dörfern vertrieben wurden und seitdem eine Art informelles Leben jenseits des Systems führen. An dem Projekt arbeitete Sirman auch schon in den Jahren 2016 und 2017, als sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nantes Institute for Advanced Study war. Das Forschungskollektiv Dissensus, die Gruppe feministische Studierende der Universität Boğaziçi und die Initiative Akademiker:innen für den Frieden bezeichneten die Festnahme der Professorin als ungeheuerlichen Akt und forderten ihre umgehende Freilassung.

Foto (c) Bianet