Hannover: „Die Katastrophe ist nicht das Erdbeben, sondern der Staat“

In Hannover haben Menschen aus Politik und Zivilgesellschaft über Ursachen und Folgen der verheerenden Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion diskutiert. Suad Hiso vom ezidischen Frauenverband in Rojava überraschte mit einer Liveschalte aus Şehba.

In Hannover sind am Freitagabend rund 60 Menschen aus Politik und Zivilgesellschaft im Kulturzentrum Pavillon bei Essen und Trinken gegen eine Geldspende zusammengekommen, um sich über die Ursachen und Folgen der Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion auszutauschen, die aktuelle Lage rund sechs Wochen nach der Katastrophe zu bewerten und Handlungsperspektiven zu erörtern.

Ein korruptes System in der Türkei habe ermöglicht, dass jahrzehntelang die Einhaltung von Bauvorschriften nicht kontrolliert und die Erdbebensteuer zweckentfremdet wurde. „Eine kritische Berichterstattung wird verhindert, Journalist:innen und selbst Überlebende wurden verhaftet, der Ausnahmezustand verhängt. Grenzübergänge blieben für humanitäre Hilfe geschlossen, zur gleichen Zeit bombardierten Erdogan und Assad kurdische Regionen in Nordsyrien, die ebenfalls vom Erdbeben betroffen sind. Die Weltöffentlichkeit schweigt zu diesen Verbrechen, besonders laut schweigt die Bundesregierung“, so hieß es im Aufruf der Veranstaltenden, zu denen das MiSO-Netzwerk, NAV-DEM, der Frauenrat Ronahî, der Dachverband des ezidischen Frauenrats (SMJÊ), der Zentralverband der êzîdischen Vereine in Deutschland (NAV-YEK) sowie die Ortsgruppen von Women Defend Rojava und Defend Kurdistan gehörten.

Hat der türkische Staat die vielen Opfer zu verantworten?

Wie kann man verhindern, dass selbst angesichts einer Jahrhundertkatastrophe humanitäre Hilfe zur Waffe von Despoten wie Erdogan und Assad wird? Das war die grundlegende Frage, die sich die Diskussionsteilnehmenden stellten. Suad Hiso, Sprecherin des ezidischen Frauenverbandes in Rojava, überraschte mit einer Video-Liveschaltung aus der Erdbebenregion Şehba. Feleknas Uca, Frauenrechtlerin, HDP-Abgeordnete und ehemalige Europaabgeordnete der Partei die Linke, die sich derzeit in der Erdbebenregion auf der anderen Seite der Grenze befindet, wurde aus der alevitisch-kurdischen Stadt Elbistan hinzugeschaltet. Weitere Teilnehmende waren Zübeyde Polat, ehrenamtliches Mitglied in der „Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan“, und Nihat Akdogan, der von 2015 bis 2018 als HDP-Abgeordneter für Colemêrg (tr. Hakkari) in der türkischen Nationalversammlung saß und heute im Exil in Deutschland lebt.

Uca: Feuerwehrfahrzeuge ohne ausfahrbare Leitern

Feleknas Uca gab einen sehr ausführlichen und bewegenden Einblick in die aktuelle Lage der vom Erdbeben betroffenen Zivilbevölkerung. „Jetzt gerade bebt die Erde erneut wieder nach“, sagte sie während der Videoübertragung und blickte zurück auf die ersten Tage nach den schweren Erschütterungen am 6. Februar. „Als die ersten Feuerwehrfahrzeuge eintrafen, wollte ich natürlich mithelfen, um die Menschen aus den Trümmern des sechsstöckigen Nachbargebäudes zu befreien. Ich fragte mich in dem Moment, wieso die Leitern nicht ausgefahren werden. Deshalb ging ich auf die anwesenden Polizisten und Feuerwehrleute zu und fragte, ob sie die Leiter ausfahren können, damit ich selbst mit anpacke“, sagte Uca weiter. „Doch diese Feuerwehrfahrzeuge hatten alle keine ausfahrbare Leiter. Lastwagen mit Hilfsgütern aus Sachspenden wurden vom Regime abgefangen, umetikettiert und in Regionen umgeleitet, wo Nothilfe bereits eingetroffen war“, führte Uca weiter aus. „Dadurch, dass alle Städte unter Zwangsverwaltung des Regimes stehen, sind auch alle Arbeiten zentralisiert worden. Und weil Hilfe dann aus tausend Kilometern Entfernung kam, ist viel Zeit verloren gegangen. Bei den Temperaturen von unter minus 15 Grad zählen die ersten Stunden. Die Menschen trugen keine Socken, kaum Kleidung oder Schuhe“, unterstrich Uca das Versagen des AKP/MHP-Regimes.

Polat: Lehren aus der eigenen Geschichte wurden nicht gezogen

Zübeyde Polat betonte, nicht das Erdbeben habe getötet, sondern das korrupte Ein-Mann-Regime von Recep Tayyip Erdogan. Sie erwähnte die Erdbebensteuer, die nach dem Erdbeben von Gölcük 1999 eingeführt wurde, um Gebäude landesweit instand zu setzen und erdbebensicher zu machen. „Die Türkei ist ein Erdbebenland. Das weiß man. Dennoch wurde keine Katastrophenvorsorge getroffen. Erdogan ist seit 20 Jahren an der Macht. Seit seinem Machtantritt wird im ganzen Land massiv gebaut, aber nicht erdbebensicher. Er hat die Erdbebensteuer zweckentfremdet und in die eigene Tasche gewirtschaftet, unter seiner Kontrolle floriert der Pfusch am Bau, es gibt keine Bauaufsicht. Dazu kommt die Legalisierung illegaler Gebäude seitens der Regierung durch ein sogenanntes Baufriedensgesetz, das Schäden unvermeidlich macht. Dieser Staat hat den Tod von Menschen in Kauf genommen. Warum gibt es in anderen Erdbebenregionen der Welt, etwa in Japan, wo es regelmäßig ähnlich starke Erschütterungen wie jetzt in der Türkei gibt, kaum nennenswerte Schäden? Weil Japan Lehren aus seiner Geschichte gezogen hat und sich durch kontinuierliche Verbesserungen gegen Erdbeben rüstet.“ Folglich sei die Katastrophe in der Türkei nicht das Erdbeben, sondern der Staat.

Kam das Erdbeben dem türkischen Regime gerade recht?

In den meisten Regionen des türkischen Erdbebengebiets gab es erst am dritten Tag nach der Katastrophe eine staatliche Erstversorgung. „Die Behinderung ziviler Katastrophenhilfe war da bereits angelaufen“, berichtete Nihat Akdogan. „Offenbar kam das Erdbeben dem türkischen Staat gerade recht, um die alevitisch-kurdischen Regionen nach dem syrischen Vorbild, dem arabischen Gürtel, auszuhungern, zu entvölkern und die Demografie zu verändern.“ Schätzungen gingen von weit mehr Opfern der Erdstöße vom 6. Februar aus, als von den staatlichen Stellen angegeben werden. Die Lage sei immer noch sehr angespannt, zumal es in den letzten Tagen auch noch Überschwemmungen gegeben habe, die zu weiteren Toten führten. Auch die in der Türkei im Mai anstehenden Wahlen und das laufende Verbotsverfahren gegen die HDP erschwerten die Situation in der Türkei. „Doch ganz gleich, welche Hürden das Regime uns noch in den Weg legen wird“, so Akdogan abschließend, „die Kurden und alle demokratischen Kräfte in der Region werden widerstandsfähig bleiben, sich organisieren und ihren Kampf ausweiten. Der Diktator weiß, dass sein Ende naht. Er fürchtet sich, und das zu Recht.“

Bombardements auch unmittelbar nach den Erdbeben

Suad Hiso sprach über die Lage in den Autonomiegebieten Nord- und Ostsyriens. Sie kritisierte, dass die Bombardierung der Region auch unmittelbar nach den Erdbeben fortgesetzt wurden. So hatte die türkische Armee nur wenige Stunden nach der Katastrophe Luft- und Bodenangriffe auf Şehba und andere Teile Rojavas verübt. Aber auch andere militärische Kräfte, darunter das Regime von Baschar al-Assad, bombardierten die Erdbebengebiete in Syrien. „Dieser Zustand hält auch gegenwärtig an. Es sind unterschiedliche Kräfte an den Angriffen beteiligt: Der Iran und die Türkei, der IS, das syrische Regime und auch andere äußere Akteure mischen mit“, unterstrich Hiso. Weiter sagte sie: „Uns fehlt es an allem. Konkret fehlen Babynahrung und Medikamente. Hilfsgüter von außerhalb erreichen weder Şehba noch Efrîn oder Şêxmeqsûd. Weil Sachspenden nicht durchgelassen werden und Vor-Ort-Käufe aufgrund des Wirtschaftsembargos für die Bevölkerung kaum erschwinglich sind, benötigen wir Gelder, um die benötigten Mittel teuer einzukaufen.“

Wie kann also verhindert werden, dass eine Erdbebenkatastrophe von Diktatoren wie Erdogan und Assad ausgenutzt und humanitäre Hilfe zur politischen Waffe wird? Dazu Suad Hiso weiter: „Wir organisieren uns hier in Şehba nach den Prinzipien der Frauenbefreiung und Gleichberechtigung, des nachhaltigen ökologischen Leben und der Basisdemokratie in allen Lebensbereichen weiter. Wir organisieren zudem auch unsere Selbstverteidigung und bauen unser demokratisches System aus. Dies gilt auch für die anderen Regionen in Rojava und den nordostsyrischen Autonomiegebieten.“

Die Ära der Waffen gegen das Volk wird enden

Nihat Akdogan schloss die Veranstaltung mit folgenden Worten ab: „Die Türkei steht vor einem Wendepunkt. Gelingt es den demokratischen Kräften, sich durch Selbstorganisierung zu behaupten, wird es in der Türkei zu einem Mentalitätswechsel kommen und zu einem politischen Umbruch, der die europäische Politik, die auf Profit und Eigeninteresse basiert und Erdogan am Leben hält, ebenfalls beeinflussen wird. Damit wird auch die Ära der Waffen gegen das Volk beendet.“