Menschen aus Efrîn zu ihren Erfahrungen mit Öcalan und der PKK

Öcalan legte in den zwanzig Jahren vor seiner Gefangenschaft die Grundlagen für die Revolution von Rojava. Zwei Menschen aus Efrîn, die Zeug*innen dieser Jahre waren, legen uns ihre Erinnerungen dar.

Auf einem Treffen von 22 jungen Menschen wurde zwischen dem 26. und dem 27. November 1978, also vor genau 40 Jahren, im Dorf Fis bei Licê in der nordkurdischen Provinz Amed (Diyarbakir) die Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK gegründet. Vor dem Militärputsch von 1980, bei dem fast die gesamte Linke in der Türkei zerschlagen wurde, hatte der PKK-Vorsitzende mit einem Teil der Bewegung bereits am 2. Juli 1979 einen taktischen Rückzug über die syrische Grenze durchgeführt, war nach Rojava gegangen und hatte damit die PKK gen Mittlerem Osten geöffnet. Unsere Korrespondent*innen Hîvda Hebûn und Ersin Çaksu sprachen mit Fidan Ebdo und Hesûn Mihemen, zwei Zeitzeug*innen aus Efrîn, die insbesondere auch über die Zeit in Aleppo, Damaskus und dem Libanon berichten können.

Fidan Ebdo kommt aus dem Dorf Mamela in Efrîn-Raco. Sie lernte die PKK durch ihren Bruder im Jahr 1988 kennen, als dieser Medizin studierte. Sie berichtet: „Zuerst war ich in der Arbeit mit Kindern tätig. Auf diese Weise fing ich an. Später kam die Freundin Şilan Kobanê zu mir und sagte, sie wünsche sich, dass ich an der politischen Arbeit teilnehme. Das habe ich zwei Jahre gemacht.“

Hesûn Mihemed kommt aus dem Dorf Basilê in der Region Efrîn-Şêrawa. Er berichtet, durch etliche mittlerweile mehrheitlich gefallene Freund*innen die Partei kennengelernt zu haben. Mihemed erzählt: „Einer von ihnen war Heval İkbal Esvet. Als ich jünger war, kam er zu uns nach Hause zu meinem jüngeren Bruder. Ständig sprachen sie miteinander, aber wenn wir dabei waren, redeten sie sehr leise. Wenn wir rausgingen, wurden die Stimmen lauter. Einmal sagte ich: ‚Worüber sprecht ihr denn immer, wir wollen das auch wissen.‘ Die beiden waren jünger als wir. Damals hatte niemand den Mut, über solche Themen zu sprechen. Die Jüngeren aber haben alles gelernt.“

Erste Begegnung mit Öcalan

Fidan Ebdo erzählt weiter: „Nach zwei Jahren politischer Arbeit sagte die Freundin Şilan eines Tages zu mir: ‚Es wird ein Auto kommen und dich an einen Ort bringen, du wirst aber nicht fragen, wo es hingeht.‘ Ein Auto kam, nahm mich mit und brachte mich nach Hamdaniye [Aleppo]. Dort versammelten wir uns in einem Saal. Es waren viele Menschen aus der Bevölkerung da. Ich war eine der Jüngsten. Da ich die Kleinste war und damit ich besser sehen konnte, ließen sie mich vorne sitzen. Wir warteten eine halbe Stunde. Wir wussten nicht, mit wem wir uns treffen würden. Sie brachten einen Tisch und Blumen. Es war anders als auf anderen Versammlungen. Plötzlich kam der Vorsitzende herein. Es waren 40-45 Menschen im Saal versammelt. Alle standen sofort auf. Ich war sehr aufgeregt. Der Vorsitzende hatte ein sehr starkes Charisma. Er schaute alle zunächst an. Dann blickte er mich an und lachte. Er forderte mich auf, zu ihm zu kommen. (…) Er sagte, es sei sehr gut, dass so ein junges Mädchen wie ich hier sei und fragte, warum ich gekommen war und was mich so sehr hiermit verbinde. Ich sagte: ‚Vorsitzender, in unserer Organisation sind wir frei,‘ und er fragte weiter: ‚Woher weißt du, dass du frei bist?‘ Ich antwortete, dass wir früher nicht die Häuser verlassen konnten, aber nachdem wir die Partei kennengelernt haben, hinausgehen konnten und sich niemand einmischt. Ich sagte: ‚Wir können arbeiten. Ich arbeite mit Kindern, mache Theater und bin in der politischen Arbeit aktiv.‘ Als ich sagte, dass ich in der Volksarbeit tätig bin, war er erstaunt: ‚In diesem Alter machst du Volksarbeit?‘ Ich sagte: ‚Ja. Ich gehe in die Bevölkerung und organisiere junge Frauen und Männer in meinem Alter.‘ Er meinte: ‚Das ist sehr gut, es ist ein großer Erfolg, wenn ein Mädchen in deinem Alter auf diese Weise an den Arbeiten teilnimmt.“

Annäherung an die PKK

Hesûn Mihemed berichtet: „Später haben wir von Bekannten erfahren, dass es eine neue Partei gibt, ihr Name war PKK. Ihr Vorsitzender sei Abdullah Öcalan. Das war für uns etwas Neues. Wir lasen die Bücher. Dann machten wir bei der Frontarbeit mit. Wir haben zu dieser Zeit in Aleppo gearbeitet. 1993 kamen dann die Freunde zu uns und meinten, dass es ein wichtiges Treffen geben würde und wir daran teilnehmen müssten. Wir fuhren nach Aleppo. Das Haus, in dem wir uns trafen, war ziemlich groß. Es befanden sich etwa 30-35 Personen im Wohnzimmer. Wir hatten alle schon Frontarbeit gemacht. Wir fragten uns, wer kommen würde. Dann haben wir erfahren, dass der Vorsitzende kommt. Sobald wir das hörten, wurden wir alle sehr aufgeregt.  Als der Vorsitzende kam, schlug uns das Herz bis zum Hals. Das war eine sehr große Sache."

Frauenbefreiung als ein Schwerpunkt der PKK

Fidan Ebdo: „Auf diesem Treffen sprach der Vorsitzende noch mehr über die Befreiung der Frau. Er fragte die Frauen: ‚Was habt ihr von der PKK gelernt, seit ihr sie kennt?‘ Die Frauen sagten: ‚Die PKK hat für ein gleichberechtigtes Leben gesorgt. Aber die Männer führen sich uns gegenüber immer noch wie Despoten auf. Wenn Besuch kommt, haben wir kein Recht dabeizusitzen und müssen vor die Tür. Dort, wo die Männer sitzen, dürfen wir nicht sein. Aus Respekt vor den Männern und um unser Heim nicht zu zerstören, schweigen wir. Er sagte: ‚Gleichheit und Gerechtigkeit sind euer Recht. Ihr müsst in jeder Hinsicht euer Recht erhalten‘ und führte Heval Sara [Sakine Cansız] als Beispiel an. Er erzählte uns, wie Heval Kemal [Pir], Heval Mazlum [Doğan], Heval Hayri [Durmuş] und die anderen Freunde Widerstand geleistet haben und wie der Feind Heval Sakine und ihren Freunden gegenübertrat und versuchte, ihren Widerstand und ihre Moral zu brechen. Und wie Heval Sakine dagegen Widerstand geleistet hat. Der Vositzende sagte: ‚Wenn ein Volk kein Land hat, dann kann es nicht widerstehen und sich nicht befreien, unser Land ist Kurdistan. Wenn du kein Land hast, dann besitzt du auch kein Recht. Die Männer sollen sich nicht selbst belügen. Ihr Männer seid Sklaven des Feindes und kommt nach Hause, um eure Frauen zu unterdrücken.“

„Wenn der Norden organisiert ist, wird es leichter sein, Rojava zu befreien“

Hesûn Mihemed: „Der Vorsitzende ging dann etwas auf die gesellschaftliche Ebene ein. Danach sprach er von der Geschichte der vier Teile Kurdistans, vor allem über Nordkurdistan. Diese Region stellt einen Großteil Kurdistans dar und die meiste Arbeit fanden dort statt. Er bewertete das Niveau der Arbeit im Norden und berichtete von den Arbeiten, die wir dort leisten, warum wir dort kämpfen und was der Feind mit uns vorhat. Er sagte, wenn sich der Norden organisiert, dann wird es leichter sein, den kleinen Teil, also Rojava, zu befreien. Denn dann würde es bereits ein großes Kurdistan geben und die kleinen Teile können größere Schritte für ihre Freiheit gehen.“

„Es wird ein Tag kommen, an dem das Blut im kleinen Süden bis zu den Knien stehen wird“

Fidan Ebdo: „Zum Staat machte der Vorsitzende folgende Bewertung. Im kleinen Süden (Rojava) habe der Staat heute alles in der Hand. Eine Person könne nicht einmal sagen, dass sie Kurde sei. Diejenigen, die sich als Kurde bezeichneten, landen im Kerker. Die Versammlung dauerte mehr als zwei Stunden. Bevor sich unsere Wege trennten, sagte der Vorsitzende einen Satz, der mir immer noch im Gedächtnis haftet. Ich war damals 14 und denke heute immer noch daran. Er sagte: ‚Es wird ein Tag kommen, an dem das Blut im kleinen Süden bis zu den Knien stehen wird.‘ Wir waren alle sehr erstaunt, warum der Vorsitzende so etwas sagte. Die Menschen schauten einander an. Wie soll das geschehen? Hier ist doch nichts, wir sind alle mit voller Kraft bei unserer Arbeit. Aber der Vorsitzende sagte: ‚Vielleicht werdet ihr es vergessen, euch umdrehen und auf mich zeigen – aber dieses Mädchen wird es nicht vergessen.‘“

„Heute trinken wir Wasser aus dem Brunnen, der mit der Nadel gegraben wurde“

Hesûn Mihemed: „Der Vorsitzende benutzte einen Ausdruck, der unsere Aufmerksamkeit erregte. Er sagte: ‚Wir arbeiten, wie wenn man mit einer Nadel einen Brunnen gräbt.‘ Jahre später haben wir erlebt, was dieser Ausdruck bedeutet. Heute trinken wir Wasser aus dem Brunnen, der mit der Nadel gegraben wurde. Heute müssen wir den Wert dessen verstehen und den Worten des Vorsitzenden gerecht werden. Wenn wir diesen Punkt vernachlässigen, dann muss uns klar sein, dass wir die Menschlichkeit und die Gefallenen vernachlässigen.“

Der Weg in die PKK-Akademie

Fidan Ebdo: „Ich habe den Vorsitzenden insgesamt acht Mal getroffen. Eines Tages sagte Heval Şilan zu mir: ‚Wir fahren an einen Ort, der sehr weit weg ist. Kommst du mit?‘ Ich sagte sofort, dass ich natürlich mitkomme. Ich hatte einen kleinen Bruder. Den nahm ich auch mit und wir brachen sodann mit den Freunden auf. Wir fuhren bis zur Grenze, aber der Staat verbot uns, diese zu passieren, weil wir keine Ausweise hatten. Aber wir hatten uns in den Kopf gesetzt, dorthin zu gehen. Ich fühlte mich damals zum ersten Mal so entschlossen und stark wie nie. Ich glaube, diese Kraft aus dem Gespräch mit dem Vorsitzenden gezogen zu haben. Ein Taxi kam und fragte uns, wo wir hinwollten. Als wir sagten, dass wir ins Camp wollen, sagte er, er werde uns unter einer Voraussetzung mitnehmen: An einem bestimmten Ort sollten wir ohne zu zögern aussteigen und schnell nach oben steigen. Bevor wir dort ankamen, zeigte uns der Mann den Ort. Ich habe mir meinen Bruder auf den Rücken gebunden und bin direkt nach oben gerannt. Als ich oben ankam, sah ich die PKK-Fahnen. Dieser Moment war sehr schön. Ich hatte zum ersten Mal die Fahne der PKK auf einem Berg wehen sehen.

15. August-Feier an der Akademie

Auf der Versammlung dort fanden Bewertungen zur Vorbereitung der Feiern zum 15. August statt. Dann endete das Treffen. Am folgenden Tag sollten die Feierlichkeiten stattfinden. Der Vorsitzende saß auf einem Stein. Die Freundinnen und Freunde standen in militärischer Formation im Gelände. Die Bevölkerung saß um sie herum. Der Vorsitzende grüßte die Bevölkerung und dankte ihr. Die Moral bei den Menschen war hoch. Der Vorsitzende sprach zwei Stunden lang. Nach dem Ende seiner Rede wetteiferten die Menschen um ein Foto mit ihm. Ein Großteil der Bevölkerung war illegal über die [libanesische] Grenze gekommen. Die Gruppe vor uns war inhaftiert worden. Die Freunde sagten uns, dass wir nicht in die Autos steigen, sondern zu Fuß gehen sollen, da der Staat die Straßen blockiere. Den Menschen war das egal. Sie sagten: ‚Wir haben den Vorsitzenden gesehen, soll das syrische Regime doch machen, was es will.‘ Selbst die Inhaftierung unserer Vorgängergruppe drückte unsere Moral keineswegs. Die Menschen hatten auch eine Menge Dinge mitgebracht, die einen ein Bild des Vorsitzenden, die anderen Fahnen.“

Hesûn Mihemed: „Wenn wir aus heutiger Perspektive betrachten, was wir erlebt haben, dann findet das, was der Vorsitzende damals sagte, heute ganz klar statt. Die PKK hat sich heute als Vertreterin der Menschlichkeit und Avantgarde im Mittleren Osten bewiesen.“

Fidan Ebdo: „Es waren Jahre vergangen. Ich habe zu der Zeit wieder Kulturarbeit gemacht. Die Freund*innen sagten, dass es ein Treffen gibt. Wir gingen an einen Ort in Şêx Meqsûd [Aleppo]. Es war ein kleines Haus. Der Vorsitzende sprach dort über die Kultur, wie wir sie schützen und sie kennenlernen. Er sagte, von unserer Haltung hänge die Einstellung uns gegenüber ab, und fuhr fort: ‚Ihr solltet euch wie Kader verhalte und eine entsprechende Haltung annehmen. Selbst wenn ihr Witze macht, verbindet das mit Kultur.“

„Wir haben gelernt, dass der Traum wahr werden kann“

Hesûn Mihemed: „Bevor wir die PKK kannten, konnten wir uns so etwas im Traum nicht vorstellen. Denn bis dahin hat es viele Parteien gegeben und keine hat in Kurdistan so etwas erreicht. Aber der Vorsitzende sprach in seiner Perspektive immer von der Zukunft. Wie die Zukunft sein würde, was wir wie tun sollten. So hat er uns zusammen mit den Entwicklungen langsam fühlen lassen, dass es möglich ist. Wir haben gesehen, wie sich die Guerilla entwickelt und die Bevölkerung um die Führung und die Partei gesammelt hat. Wir sehen heute das Niveau des Kampfes und so haben wir begriffen, dass dieser Traum wahr sein kann. All das, was uns der Vorsitzende damals sagte, ist eingetreten. Damals haben wir freilich nicht geglaubt, dass so etwas geschehen würde.“