Im kurdischen Landkreis Nisêbîn (tr. Nusaybin) in der Provinz Mêrdîn (Mardin) wurden unter einer alten syrisch-orthodoxen Kirche hunderte menschliche Schädel und Knochen gefunden. Der makabre Fund wurde von der kurdischen Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) dokumentiert, die als erstes Medium Zugang zu einem bislang verschlossenen unterirdischen Raum der Kirche Mor Dimet erhielt. Die Kirche liegt im christlich-aramäischen Dorf Arbo am Fuße des Bagok-Gebirges. In einem nur durch einen schmalen Geheimgang zugänglichen, dunklen Schutzraum unter dem Gotteshaus offenbarten sich auf kleinstem Raum erschütternde Szenen: In den engen Nischen des Raumes stapeln sich menschliche Knochen – viele der Schädel weisen laut MA auf Kinder und Frauen als mögliche Opfer hin.

Hinweise auf ein Massaker
Bislang ist nicht eindeutig geklärt, aus welcher Zeit die Gebeine stammen. Bewohner:innen der Region berichten jedoch übereinstimmend, dass es sich um Opfer der osmanischen Massaker an den Suryoye handeln könnte. In der Hochphase des sogenannten „Sayfo“-Genozids (Sayfo oder auch Seyfo bedeutet auf Aramäisch Schwert) von 1915 bis 1917 wurden laut aramäischen Quellen zwischen 270.000 und 300.000 Menschen ermordet. Verschiedenen Schätzungen zufolge wurden bei Massakern zwischen 1914 und 1920 insgesamt bis zu 750.000 Angehörige der assyrischen, aramäischen und chaldaäischen Religionsgemeinschaften von osmanischen Truppen ermordet oder zwangsvertrieben. Auch Parallelen zum zeitgleich verübten Völkermord an den Armenier:innen sind offensichtlich.

Keine Reaktion der Behörden
Einwohner:innen berichten, dass sich während der Massaker zahlreiche Menschen, vor allem Frauen und Kinder, in dem Kirchenschutzraum versteckten – und dort vermutlich getötet wurden. Offizielle archäologische oder forensische Untersuchungen wurden bislang nicht durchgeführt. Auch gibt es seitens der türkischen Behörden bisher keine Reaktion auf den Fund.
Drei Mal zerstört – drei Mal wieder aufgebaut
Arbo gilt als Sinnbild für die leidvolle Geschichte der Suryoye in der Region. Der Ort wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts insgesamt drei Mal gewaltsam geräumt: erstmals während des Sayfo-Völkermords, erneut nach der Gründung der Republik Türkei und zuletzt in den 1990er Jahren, als tausende Dörfer in den kurdischen Provinzen unter dem Vorwand „staatlicher Sicherheitsinteressen“ zerstört wurden. Erst ab 2001 begannen zurückkehrende Exil-Suryoye mit dem Wiederaufbau einiger Häuser.

Angst und Schweigen
Obwohl der Fund von bedeutender historischer Relevanz ist, herrscht in der lokalen Bevölkerung Zurückhaltung. Viele befürchten Repressionen oder fühlen sich durch die Geschichte des Ortes bis heute bedroht. Die Angst vor neuerlicher Vertreibung, Stigmatisierung oder gar Vergeltung führt dazu, dass selbst über Jahrzehnte erhalten gebliebene Überlieferungen nur zögerlich geteilt werden.
Einige der sieben Kirchen des Dorfes, darunter Mor Dimet, sind stark beschädigt oder nur in Teilen erhalten geblieben. Die Entdeckung der sterblichen Überreste legt einmal mehr die tiefen historischen Wunden in der Region offen – und wirft die Frage auf, ob und wann eine umfassende Aufarbeitung der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in der Türkei stattfinden wird.
Bilder © MA