Der Freiheitskampf verfolgt seine eigene Linie

Rıza Altun, Exekutivratsmitglied der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), hat sich zur aktuellen Situation in Efrîn geäußert.

Rıza Altun, Mitglied des KCK-Exekutivrats, hat gegenüber der Nachrichtenagentur ANF den Besatzungsversuch des türkischen Staates in Efrîn, die Motive Russlands und der USA, sowie die Position der kurdischen Freiheitsbewegung bewertet.

Im Folgenden eine gekürzte Fassung der Aussagen von Altun:

„Die aktuelle Situation in Syrien, insbesondere die der Regierung in Damaskus, muss richtig analysiert werden. Seit fünf, sechs Jahren befindet sich Syrien in einem Kriegszustand. Da die Regierung in Syrien nicht auf eigenen Beinen stehen konnte, hat sich mit der Unterstützung des Iran und der ihr verbundenen Hezbollah eine andere Situation entwickelt. In dem Krieg war die Rolle dieser Kräfte von Beginn an von großer Bedeutung. Sie waren die grundlegenden Kräfte, die das Regime stützen. Russland, als internationale Kraft, spielte dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. Gegenwärtig nimmt Russland eine Position ein, mit der es das Regime auf den Beinen hält, seinen Niedergang verhindert und es dabei unterstützt, wieder zu hegemonialer Stärke zu gelangen. Das Regime war also über die gesamte Phase des Krieges nicht in der Lage, unabhängig und losgelöst von diesen Kräften zu agieren. Das sollte zunächst jeder wissen.

Folgendes sollten wir wissen: Die Annäherung Syriens an das Bündnis zwischen der Türkei und Russland ist immer noch nicht klar und diskussionswürdig. Klar ist jedoch, dass Russland die jetzige Situation nicht ohne das Wissen Syriens herbeigeführt hat. Dadurch ergibt sich eine Situation, in der Russland eine zentrale Rolle spielt. Es ist fragwürdig, wie sehr das Regime, aber beispielsweise auch der Iran, diese Situation gut findet oder gar unterstützt. Doch selbst wenn sie die Situation, also den Einmarsch der Türkei in Efrîn, nicht tolerieren, haben sie nicht die Kraft, eine Reaktion gegen die Haltung Russlands zu zeigen. Meiner Meinung nach kann man sagen, dass Russland eine sehr entscheidende Rolle spielt und Syrien das Geschehen beunruhigt verfolgt. Das syrische Regime ist angesichts des Drucks von Russland dazu gezwungen, trotz aller Zweifel zu schweigen.

Die Hegemonie Russlands in Syrien

Die aktuelle Situation muss im Wesentlichen aus der Sicht Russlands betrachtet werden. Die Präsenz Russlands in Syrien ist von großer Bedeutung. Doch die russische Politik muss auch für sich selbst bewertet werden. Russland ist eine Kraft, die eine pragmatische und von kurzfristigen Interessen geprägte Politik verfolgt, aber dabei auch den regionalen Wettbewerb berücksichtigt. Ihre gegenwärtige Politik für Syrien sieht vor, mit dem Schutz des Regimes das Nationalstaatensystem in Syrien zu stützen. Damit möchte sie eine zentrale Position einnehmen, ihre bestehenden strategischen Basen verteidigen und in diesem Kontext Politik im Mittleren Osten machen.

Die Aufrechterhaltung des Regimes in Syrien ist für Russland sehr wichtig. Doch der russische Ansatz geht über das Regime in Syrien und Assad hinaus. Nicht Assad, sondern die Herrschaft und Hegemonie Russlands in Syrien gilt als absolut. Mit dieser Perspektive agiert Russland. Russland führt also seit Beginn an in Syrien eine Politik, die darauf ausgerichtet ist, in Syrien eine Kraft zu werden und dadurch die eigene Hegemonie im Mittleren Osten aufzubauen.

Russland möchte die Kurden zur Integration ins Regime drängen

Die Beziehungen Russlands zu den Kurden und vor allem zur YPG bewegen sich in diesem Rahmen. Das Ziel der russischen Politik ist es, die Kurden, die kurdische Freiheitsbewegung und ihren Kampf in das bestehende System einzubinden. Während der Kampf gegen den IS oder die al-Nusra-Front im Vordergrund stand, gab es keinen Raum für eine direkte Konfrontation mit den Kurden. Zwar versuchte Russland, die Kurden auf die Seite des Regimes zu drängen, doch der freiheitliche Ansatz der YPG ließ dies nicht zu. Doch mit der Liquidierung des IS sind die bestehenden Widersprüche in Syrien auf eine neue Ebene gerückt. Vor diesem Hintergrund versucht Russland nun, die Kurden unter einen so enormen Druck zu setzen, dass sie sich letztlich „freiwillig“ in das syrische Regime integrieren lassen. Auch aus diesem Grund hat Russland die Beziehungen zur Türkei aufgenommen und intensiviert. Russland genießt durch diese Beziehungen natürlich auch wirtschaftliche Vorteile. Und es stimmt auch, dass Moskau durch die Annäherung an Ankara versucht, die Gräben zwischen der Türkei und dem Westen bzw. der NATO zu vertiefen. Aber mit Hilfe der Türkei will Russland auch den Einfluss der Kurden in Syrien eingrenzen und sie in die Arme des Regimes drängen.

Es kann zur Spaltung in Syrien kommen

Aus diesem Grund ist gerade nun Efrîn auf die politische Agenda gelangt. Doch das ist eine sehr gefährliche Politik. Vielleicht kann diese Politik für Russland zunächst eine gewisse Anziehungskraft haben. Es kann für eine Hegemonialmacht sehr anziehend sein, die Türkei auf diese Weise als Druckmittel benutzen zu können. Und das nicht nur gegen die Kurden, sondern auch gegen das syrische Regime, um Assad weg vom Bündnis mit dem Iran zu drängen und stärker unter die eigenen Fittiche zu bringen. Aber langfristig wird diese Politik zu einer Vertiefung des Chaos in Syrien und einer zunehmenden Spaltung des Landes führen. Wenn die aktuelle Politik fortgesetzt wird, dann kann insbesondere eine Spaltung zwischen dem Osten und Westen des Euphrat vonstattengehen und Syrien von politischen und militärischen Entwicklungen heimgesucht werden, durch die der Staat gespalten wird. Russland verfolgt also in diesem Punkt eine sehr gefährliche Politik.

Russland steht im Bündnis zur Türkei

Mit einem positiven Ansatz könnte Russland eine sehr wichtige Rolle für das Entstehen eines demokratischen Syriens einnehmen. Dadurch würden die Machthaber in Moskau die Möglichkeit bekommen, ihre eigenen Interessen in einem demokratischen Rahmen zum Ausdruck zu bringen. Wenn sie jedoch das Gegenteil tun, dann wird das zu großen Schwierigkeiten führen. Es kann erneut zu einem Krieg kommen, der den jetzigen noch übertrifft.

Aus russischer Perspektive ist das Bündnis mit der Türkei von drei Merkmalen geprägt. Zunächst einmal nutzt den russischen Machthabern dieses Bündnis, um die Widersprüche zwischen der Türkei und dem Westen bzw. der NATO zu vertiefen. Zweitens möchte Russland die Beziehung zu Ankara als Druckmittel gegen das Regime nutzen. Denn es findet gegenwärtig ein Wettbewerb um die Vormacht in Damaskus zwischen Iran (und Hezbollah) und Russland statt. Mit der türkischen Karte wird daher versucht, eine Drohkulisse gegen das Regime zu errichten. Drittens verfolgt Russland eine Politik, welche die Forderungen der Kurden und anderer Völker nach Freiheit und Demokratie in Syrien einzugrenzen versucht und stattdessen auf die Restauration eines zentralistischen und totalitären Regimes in Syrien setzt. Hier überschneiden sich im Hinblick auf Errungenschaften der Kurden die Interessen der Türkei und Russlands in Syrien. Doch dieser Ansatz von Russland wird, sollte er denn so weiterverfolgt werden, zu einer ernstzunehmenden Konfrontation führen. Und sollte dies eintreten, so befürchte ich, wird es kaum die Möglichkeit geben, die verschiedenen Akteure in Syrien nochmals für die Etablierung einer Ordnung im Land zusammenzubringen.

Die Politik der USA

Die Situation der USA ist eigentlich nicht sehr anders. Es gibt in diesem Zusammenhang eine falsche Wahrnehmung und Bewertung. Es gibt eine Mittelost-Politik, welche die USA schon sehr lange führt. Im Zentrum dieser Politik stand bislang der Islamische Staat (IS). Die USA verfügen seit jeher über Beziehungen zu verschiedenen Akteuren im Mittleren Osten, wie zum Beispiel der Türkei und auch anderen regionalen Staaten. Im Kontext dieser Beziehungen wird derzeit nicht ganz deutlich, welche konkreten Ziele die USA im Mittleren Osten verfolgen. Was haben sie im Mittleren Osten vor? Die Politik der USA ist mehr von pragmatischen und der Tagespolitik angepassten Entscheidungen geprägt. Im Mittleren Osten gibt es das Problem des IS. In der jüngsten Phase haben sich die USA vornehmlich auf den Kampf gegen den IS beschränkt. Sie haben auch den Kampf der PYD gegen den IS nicht ignoriert. Der beste Weg, um Prestige im Kampf gegen den IS zu gewinnen, war es, mit der PYD Beziehungen aufzunehmen.

Doch wenn wir die Beziehung im strategischen und taktischen Sinne betrachten, dann ist eine strategische Beziehung zwischen den USA und zum Beispiel der PYD nicht möglich. Es gab nur die Möglichkeit, eine taktische, konjunkturelle Beziehung aufzubauen. In diesem Sinne kam es im Rahmen des Kampfes gegen den IS zu Beziehungen, die aber klar begrenzt waren. Doch diese Beziehungen umfassten nicht das Potential für die gemeinsame Entwicklung einer politischen Lösung der syrischen Frage. Im Gegenteil, die USA haben stets versucht, die Kurden aus den Friedensverhandlungen für Syrien herauszuhalten. Obwohl die USA in den Verhandlungen von Genf federführend ist, wird die maßgebliche Kraft der Kurden, die PYD, nicht eingeladen. Warum wird der zentrale taktische Bündnispartner, der gegen den IS kämpft, nicht als eine politische Kraft in Genf anerkannt? Allein diese Tatsache lässt uns die ganze Angelegenheit besser verstehen. (…)

Ein abgekartetes Spiel

Obwohl bei der Raqqa-Operation eine zwei- bis dreitausendköpfige QSD-Einheit von Efrîn nach Raqqa und Dêra Zor ging und an den gemeinsamen Kämpfen zur Befreiung dieser Regionen teilnahm, wird nun erklärt, dass sich Efrîn außerhalb des Operationsraums der USA befinde. Durch diese Haltung wird die Intervention der Türkei in Efrîn zugelassen. Auch wenn es anders dargestellt wird, es handelt sich hier um ein abgekartetes Spiel zwischen den USA und Russland. So wie Russland ständig die Kurden ins System integrieren und die PKK und YPG vernichten will, tut dies auch die USA. Während die USA auf der einen Seite Beziehungen mit der YPG aufbaut, droht und erpresst sie auf der anderen Seite, um die YPG auf eine nationalistische und nationalstaatliche Linie zu bringen. (…)

Sowohl mit Verweis auf Russland als auch auf die USA wird derzeit immer wieder erklärt, beide hätten die „Kurden wieder verraten”. Was sollen die USA gegenüber den Kurden denn verraten? Nur Kurden, die strategische Beziehungen mit den USA haben, können verraten werden. Der Begriff „Verrat“ ist richtig, wenn er für die Kurden verwendet wird, die ihre Zukunft von den USA abhängig gemacht haben. Aber in Rojava ist das nicht der Fall. Es gibt sowieso kein gemeinsames Zukunftsprojekt mit den USA. Das wird klar, wenn man die ideologische und politische Struktur, aber auch die strategischen Ziele der USA und der YPG betrachtet. Solch eine Einheit gibt es in diesen Bereichen nicht. Wie sehen die gegenwärtigen Beziehungen aus? Die USA, also eine imperialistische Kraft, die ihr eigenes Weltsystem gründen möchte, versucht die Werte auszunutzen, die durch den Freiheitskampf einer Gesellschaft hervorgebracht wurden. Es gab von Beginn an in diesen Beziehungen einen hegemonialen Ansatz. Auch in diesen Beziehungen kommt es zu Konflikten und Krieg. Diesen Konflikt und diesen Krieg tragen wir aus. Wenn alles nach Plan der USA gelaufen wäre, hätten die USA keine Vereinbarung mit Russland geschlossen und die Türkei nicht nach Syrien eingeladen. Die USA hätten die Türkei angesichts der ganzen Beleidigungen nicht gestärkt. Warum haben die USA das getan? Um mehr Druck auf die Kurden auszuüben, sie einzugrenzen und gemäß ihres eigenen Plans auszunutzen.

Der Freiheitskampf verfolgt seine eigene Linie

Es wird von uns ein anti-imperialistischer Kampf geführt. Deshalb kann eine anti-imperialistische Kraft nicht sagen, dass die Imperialisten sie verraten hätte. So wie der globale Imperialismus und die regionale hegemoniale Linie Ausdruck einer strategischen Situation ist, so ist auch das von den Kurden hervorgebrachte Paradigma Ausdruck einer klaren Linie und einer eindeutigen Haltung. Die strategischen Partner unserer Linie sind die globalen demokratischen Kräfte, die gesellschaftlichen Kräfte und die anti-systemischen Kräfte.”